Ich erinnere mich sehr gut an einen Moment der Kleinkindzeit: Das Baby in der Wippe vor der Dusche, ich öffne den Duschvorhang, das Baby schaut auf meine Brüste und alles im Gesicht des Kindes sagt: „Hm, lecker, njamnjamnjam!“
Monatelang war ich ein Organismus mit dem Kind. Tag und Nacht. Auch sowas wie duschen ging eben nur wenn es keine zehn Minuten dauerte und das Kind mindestens in der Nähe war. Ich war eine Milchkuh geworden. Ich erinnere mich so deutlich an den Moment, weil es sich eben so anfühlte: Ich war nur noch das. Eine Futtermaschine. Und Futter war Milch, Futter war Nähe, Futter war alles, was das Baby brauchte.
„Sei doch nicht so perfektionistisch!…denn dann lösen sich alle Überlastungsprobleme von selbst.“
Schatz, ich habe gekocht!
Dank europäischem DACH-Schaden, geht die Pandemie immer weiter und das Thema Überlastung ist keine Ausnahmeerscheinung mehr, sondern wird in verschiedenen Schattierungen Grundtenor. Dass die „systemrelevanten“ Berufe besonders hart betroffen sind, muss man eigentlich nicht extra sagen. Erzieherinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen, Ärztinnen arbeiten seit über 1,5 Jahren im Ausnahmemodus. Schon vor der Pandemie war klar: Bezahlung und Arbeitsbedingungen sind oft unter aller Kanone. Woher die Betroffenen der Berufsgruppen derzeit noch ihre Motivation schöpfen, ist mir gelinde gesagt ein Rätsel. Es sind ja nicht „nur“ die unzumutbaren Belastungen im Job – sie alle haben Familien, Angehörige, Sorgeverpflichtungen – eine zweite Schicht nach Ende der Erwerbsarbeit.
Das rot-blaue Eum und Yang-Symbol steht für das Universum und die in ihm enthaltenen Gegensätze, beispielsweise Gut und Böse, Gewinner und Verlierer…
Die Jugend von heutzutage hat es wirklich nicht leicht. Was kann sie schon tun, um die Elterngeneration zu provozieren? Ja gut, Kinder und Jugendliche aus CDU-Haushalten können der Linksjugend beitreten – aber sonst ist es echt schwer. Wobei, Fleisch entsagen, den Führerschein nicht als großes Ziel mit 18 machen, auf Demos gehen, gendern, sich für Gleichberechtigung einsetzen, … also ok, das alles provoziert einige Menschen doch noch erheblich, aber sonst ist es wirklich schwer!
Jedenfalls: In meiner Social Media Timeline ist schon wieder die Hölle ausgebrochen, denn „KINDER SPIELEN DIE BRUTALE NETFLIX-SERIE SQUID GAME AUF DEM SCHULHOF NACH“. Ich bin sogar auf Artikel gestoßen, die Schul-Briefe zitieren, die Eltern darüber informieren, dass Kinder, die Squid Game nachspielen, bestraft werden (…). Jedenfalls sollen die Eltern sich mal zusammenreißen und den Kindern verbieten Squid Game zu schauen und die Medienzeit mal begrenzen etc. pp.
Ja gut. Wer Squid Game gesehen hat, der wird sich jetzt zu Recht denken: das ist keine Serie für Kinder. Ganz grob kann man die Serie dem Genre Torture Porn zuordnen und wenn man den Inhalt zusammenfasst, geht es darum dass 455 Menschen grausam in 6 Runden kompetitiven Spielen hingerichtet werden, so dass am Ende ein Spieler mit 45,6 Millarden Won (umgerechnet 33 Mio EUR) nach Hause gehen kann. Die „Besonderheit“: die Spiele, bei denen die Kandidat*innen um ihr Leben spielen, sind Kinderspiele.
Die neu gewählte Sprecherin der Grünen Jugend hat im Alter von 13/14 Jahren Mist gebaut und Dinge im Netz von sich gegeben, die komplett unangebracht waren. Die Folge: u.a. Morddrohungen.
Naheliegende Frage an mich, als Autorin eines Buches zum Thema Kinder und digitale Medien: Wie bringt man Kindern Medienkompetenz bei? Wie macht man Kindern klar, dass das was sie jetzt schreiben, ihnen Jahre später schaden kann?
Seit mir die Fragen gestellt wurden, denke ich darüber nach. Nicht weil sie so schwierig sind. Nein, weil mir die Fragen widerstreben. Es sind schlichtweg die falschen Fragen. Es geht hier doch nicht um die mangelnde Medienkompetenz einer 13 Jährigen. So über diesen Fall nachzudenken, stellt sich für mich wie eine Täter-Opfer-Umkehr dar.
Man möchte nie die Sätze sagen, die man von den eigenen Eltern gehört hat und dann sagt man sie doch: „Nur weil Paul aus dem Fenster springt, musst du das doch nicht auch machen, hm?“ Der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin geht es da nicht so. Die richtet sich doch lieber nach Paul. Die möchte lieber machen, was leichter ist:
Sie entscheidet nämlich, dass heute – eine Woche vor dem Start der Herbstferien – die Maskenpflicht an Berliner Grundschulen fällt. Für die Kinder ab der 7. Klasse (also für die, die 12 sind und geimpft werden können) bleibt sie allerdings bestehen. Lediglich zu Klassenarbeiten können die älteren Kinder die Masken absetzen.
Mein Gehirn möchte explodieren, wenn ich darüber nachdenke, auf welcher Grundlage diese Entscheidung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gefällt sein könnte. Denn nichts daran ergibt Sinn. Zumindest wenn man z.B. die letzten 99 Folgen des NDR Podcasts „Coronavirus-Update“ mit Drosten und Ciesek gehört hat.
Es geht ein Cover durch die Timelines der unterschiedlichen Social Media Plattformen. Es titelt „Papa kann das schon alleine“, Untertitel „Was moderne Männer alles hinkriegen, wenn die Mütter sie lassen“ und zeigt eine Frau, die einen Mann in einer Babytrage vor sich her trägt, der wiederum ein Baby in einer Trage vor sich trägt. Weiter geht es mit „Viele Väter wollen besser sein als ihr Ruf. Doch ausgebremst werden sie oft von Müttern, die nicht loslassen.“
Später taucht noch ein Textausschnitt auf, der sarkastisch kommentiert wird:
ohgott der Mann tut mir so leid, das hat er nicht verdient, nicht extra dafür gelobt zu werden, dass er sein Kind betreut, es bricht mein Herz in tausend Stücke pic.twitter.com/g9z6DwCyUH
Als ich abends durch meine Timeline scrolle, muss ich ziemlich viel lachen und an ein Gif denken, das mir sehr gefällt.
Mit einer Nacht drüber schlafen, stelle ich fest, dass die Diskussion sehr von Gegensätzen geprägt ist und so eigentlich sehr viel Energie völlig sinnlos verpufft. Maternal Gatekeeping gibt es nicht! Darunter Antworten von Männern, die gerne mehr machen wollten, aber tatsächlich nicht „dürfen“. Maternal Gatekeeping gibt es eben doch, beharren sie!
Ich blicke zurück auf eine Zeit, in der mein Tag 40 Stunden hatte und ich die Energie hatte, diese zu füllen. Rein rechnerisch geht das mit Multitasking und Schlafverzicht. Die Kinder waren klein, sie wollten beschäftigt, gewickelt, angezogen, gefüttert werden. Nebenbei der Erwerbsjob, freilich nur 32 Std/Woche – ich brauchte ja Zeit für die Care-Arbeit. Daneben das Blog, an Büchern schreiben, Ideen entwickeln, Ausflüge planen, lesen, mitbekommen welche Ausstellungen demnächst eröffnen und sehenswert sind. Freundinnen treffen, alle bekochen, Blumen gießen, Regal reparieren, Geschenke für die Kinder befreundeter Mütter basteln.
All das ging. Es war Kraft da und v.a. mein Kopf war ein sprudelnder Quell von „Was noch, was als nächstes?“.
Seit Monaten ist diese Quelle versiegt. In mir nur noch Leere. Ich schaue träge auf die Welt, verstehe sie nicht und habe das Gefühl, dass mir nichts mehr Freude bereitet. Nicht mehr so wie früher. Die Limo schal. Alles wie Mineralwasser Medium. Es regnet, die Sonne scheint, der Himmel ist grau. Wolken. Aha. Alles ist unglaublich zäh und Alltägliches wird unerklärlich. Ich bemerke, dass der Himmel blau ist und es fühlt sich an, als hätte ich das vergessen. Dass er blau sein kann. Kann er offensichtlich.
Alles hat sich verlangsamt. Träge. Wie die unendlich langen Sommerferien meiner Kindheit.
Ich schaue Pandemie-Filme. Auch da tragen manche Masken und manche reißen sie direkt vor einem offensichtlich Infektiösen runter. Vor der Pandemie hätte man noch den Kopf geschüttelt. Heute ist das der Teil am Film, der schmerzhaft realistisch erscheint. Warum nach drei Tagen Film-Pandemie alles brennt und das Benzin ausgeht, verstehe ich allerdings nicht. In den Filmen bricht überhaupt alles in wenigen Tagen zusammen und niemand muss mehr arbeiten gehen. „Gut haben es die Pandemie-Leute im Film“, denke ich. Sie müssen zwar ihr Essen jagen, aber sie müssen sich nicht fragen wie sie Kinder beschulen, wie sie ihre seelische Gesundheit in dem Hin- und Her, der sozialen Isolation erhalten. Wie sie das tun, während sie weiter erwerbsarbeiten gehen. Vereinbarkeit ist nicht mal als Fiktion in der Pandemie ein Thema. Überhaupt. In Pandemie-Filmen machen die Erwachsenen alles gemeinsam. Sie schließen sich in Gruppen zusammen, sie sind nie alleine. Kein Pandemie-Film hat mir in Aussicht gestellt, dass ich 18 Monate alleine vor meinem Rechner sitze.
Das immer gleiche Leben macht müde. Aufwachen, essen, arbeiten, nicht durchdrehen beim Nachrichtenlesen, kochen, essen, nebenher Bruchrechnen, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Potato famine, Subjonctif, die Anden, Koreakrieg, schlafen. Repeat.
Heute um 12.05 Uhr läuft auf Kanal 2 der diesjährigen re:publica das Gespräch von Marcus Richter und mir als Elternpaar zur Pandemie. Wir haben aufgezeichnet und im Nachhinein hätte ich gerne (noch) mehr über das Gleichberechtigungsthema gesprochen. Denn uns kam in der Planung des Gesprächsleitfadens das große Aha. Für uns waren die letzten Monate immer wieder anstrengend, aber wir sind immer beide nur ein bisschen kaputt – nie ist einer total am Ende.
Deswegen liebe ich die Illustration von Frollein Motte so. Abends muss immer gelten: Beide geschafft, aber alles geschafft.
Wer sofort das Haar auf dem Foto entdeckt hat, muss noch daran arbeiten die Gut-genug-Lösungen zu lieben.
Die Pandemie hat an den Kräften gezehrt. Aber auf Augenhöhe zu sein, jeweils beides zu können: Geld verdienen und Sorgearbeit leisten, das macht eben krisensicher.