Schreiben Sie doch mal was mit Prekarisierung

Prekarisierung ist entgegen meiner Annahme ein eher soziologisch geprägter Begriff. Allerdings finde ich den Begriff sehr geeignet ihn für ein psychologisches Phänomen zu benutzen, welches ich zwar zunehmend beobachten kann, jedoch bislang nicht benennen konnte.
Gemeint ist das seltsame Phänomen, dass Menschen trotz Wohlstandes und Sicherheit immer ängstlicher werden und sich immer mehr in den privaten Bereich zurückziehen. (Vielleicht gab es eine ähnliche Bewegung zur Weimarer Republik?)
Gemeint ist folgendes. Ein Großteil der Akademiker in Deutschland haben weder wirkliche finanzielle Not erfahren müssen, noch waren sie bislang auf Sozialhilfe und ähnliches angewiesen. Tatsächlich gibt es in der Mittelschicht viele kinderlose Doppelverdienerhaushalte.
Zusätzlich sichern diese Menschen sich mit einigem Eifer alles ab, was geht: Berufsunfähigkeit, Pflegezusatz, private Rentenvorsorge, Haftpflicht, Hausrat etc.
Dennoch ist es nie sicher genug. Nie sicher genug für Kinder. Nie sicher genug für größere Investitionen. Nie sicher genug für die Zukunft.
Man begibt sich allzu gerne in im Grunde unerträgliche Arbeitssituationen. In denen man sich beispielsweise irgendwann erfolgreich eingeredet hat, dass es völlig normal ist, täglich mehr als 10 Stunden zu arbeiten, am Wochenende ins Büro zu gehen, mehrere Tausend Kilometer pro Woche zwischen den einzelnen Einsatzorten zurückzulegen, jahrelang keinen Urlaub am Stück zu nehmen, den Wohnort zu wechseln etc.
Dabei ist es meist nicht mal so, dass man im Gegenzug für solche „Opfer“ ein besonders hohes Gehalt oder eine wirkliche Arbeitsplatzsicherheit bekommt.
Die wenigsten, die ich kenne, haben beispielsweise unbefristete Verträge mit dreimonatigem Kündigungsschutz. Die meisten haben befristete Verträge mit ein bis zwei Wochen Kündigungsfrist. Wenn überhaupt! Gerade in bestimmten Berufskreisen ist es beliebt Leute zu einem Hungerlohn als Praktikanten oder als „Freelancer“ mit Niedriggehalt ohne Kranken- und Rentenversicherung für 40 Stunden pro Woche einzustellen.
Doch selbst wenn man einen unbefristeten Vertrag hat, Sicherheit gibt das im Zeitalter des Stellenabbaus nicht. Berufseinsteiger und Kinderlose fallen schnell Sozialplänen zum Opfer.
Die meisten Konzerne, die sich Preise für Familienfreundlichkeit verleihen, sind in der Regel nicht wirklich familienfreundlich. Teilzeit ist nur unter großem Druck möglich. Reduzierte Arbeitszeiten (70% Stellen u.ä.) bedeuten weniger Geld bei 100% Arbeitszeit – sonst nichts.
Vom Umgang mit potentiell sich im gebärfähigen Alter befindlichen Frauen ganz zu schweigen.
Ich könnte noch Romane darüber schreiben. Was ich aber sagen will ist folgendes: Ist es nicht seltsam, wie unsicher wir uns fühlen? Und das obwohl die meisten keine Nöte erleiden. Man gibt sich im Namen des Absicherns mit so manch widrigem Umstand ab.
Man kümmert sich um nichts, was einen nicht direkt betrifft und ergreift für nichts Partei, zudem neigt man zum seltsamen Rückzug ins Private. Dort beklagt man sein Schicksal, die mangelnde Lebensfreude und v.a. die düstere Zukunft.
Mit steigendem Druck wird man immer lethargischer und abgestumpfter und ganz am Ende schaut man auf seinen Lebenslauf zurück und fragt sich, warum habe ich das eigentlich so lange ausgehalten?
Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass Menschen lieber das bekannte Negative behalten als das Risiko einzugehen an ihrer Situation etwas zu ändern. Es scheint wichtiger zu sein, einen stabilen Erwartungshorizont zu bilden, bei dem alles genauso eintritt, wie man es vorhergesehen hat, als einfach mal einen Schritt ins Unbekannte zu wagen.

12 Gedanken zu „Schreiben Sie doch mal was mit Prekarisierung“

  1. Ich gehöre zu den Leuten mit unbefristetem Vertrag und recht gutem (für mich) Kündigungsschutz. Ich hoffe, niemand kriegt es jetzt in den falschen Hals, wenn ich sage, dass das auch nicht zwingend glücklich macht.
    Das liegt z.B. daran, dass man dann, wenn man mit dem Job nicht hundertprozentig zufrieden ist, nur noch am Grübeln ist, ob man es sich jetzt leisten kann, zu kündigen und wenn ja, wann, und sollte man nicht vielleicht doch… Na ja. Wie gesagt, ich bin wirklich dankbar, dass ich einen unbefristeten Vertrag bekommen hab und weiß das zu schätzen, aber das macht den Job auch nicht unbedingt besser.
    Die Gefahr, dass man dann wie gelähmt bei einem Job hängenbleibt, den man eigentlich nicht wirklich mag, ist da groß.

    Ich sage immer gerne, dass das eigentliche Problem nicht die Angst vorm Verlust des Arbeitsplatzes ist, sondern die Angst, dann keinen neuen zu bekommen. Für mich ist das eine große Differenz.

  2. Schon mal überlegt, ob die Unsicherheit Angst absichtlich erzeugt wird? Und wohin das führt?

    Interessanterweise genau zu der von Dir beschriebenen Situation. Das alte Spiel: Angst erzeugt Fügung, nicht Widerstand.

    Trau schau wem….

  3. Ich finde es nicht zwangsläufig unverständlich, heutzutage auch in der Mittelschicht nicht sorgenfrei in die Zukunft zu blicken. Immerhin schreibst du ja selbst, dass sogar Akademikern bisweilen nicht mehr als ein Hungerlohn geboten wird (und auch die Zeitungen sind derzeit voll mit dem Thema).
    Man muss dann aber auch dazusagen, dass »Hungerlohn« zurzeit bedeutet, ein monatliches Einkommen von weniger als etwa 1.000€ zu haben. Für einen »angemessenen« Lebensstandard, der zwei Autos pro Haushalt, eine stetig steigende durchschnittliche Wohnfläche pro Person (der Link führt zu einer exemplarischen Grafik), zwei Computer und andere edle Elektronik sowie ganzjährig frischer Ananas umfasst, wird das in der Tat nicht ausreichen. Im Prinzip leben wir nämlich wie Maden im Speck, aber für unseren Hunger ist gar nicht genug Speck vorhanden. Der westeuropäische bzw. nordamerikanische Lebensstandard wäre global gar nicht durchsetzbar. Ich glaube nicht, dass den Leuten das unbekannt ist, und damit wird wohl auch verständlich, dass sich jeder für ein möglichst großes Stück vom verbleibenden Kuchen ohne Bedenken verkauft. Wen wundert’s, dass das auf den Magen schlägt?

  4. ich würde mal sagen.. revolution! an die Pc-schalter. wenn ärzte streiken können, dann kann das die belegschaft von KMU und Konzern erst recht.

    Bummelstreik, niemand sollte mehr als 50h in der woche arbeiten. das würde schon reichen.

    Mut zum risiko, weniger dauerangst.. das befreit!

  5. Gut gesprochen!
    Ich werde jetzt mein Buch, dass ich jede Woche wieder lese, packen, und mich auf die Wiese setzen an genau den Fleck, auf dem ich im Sommer immer sitze. Bei dem Buch kann mich nichts erschrecken und an dem Platz kann mich keine Ameise bekrabbeln, da die schon lange begriffen hat, dass es mein Revier ist. So ist es am Sichersten.

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