Urzeitliches Geflügel

Als ich noch stillte, war alles wunderbar. Im Angesicht der Hormone zauberte mir selbst ein Baby, das des Nächtens um Punkt drei beschlossen hatte völlig ausgeschlafen zu sein, ein mildes Lächeln auf die Lippen.
Mit dem Abstillen kam jedoch mein Realitätssinn wieder und so manche Situation lässt mich eher Zähneknirschen als selig grinsen.
So treibt es mich beispielsweise in den Wahnsinn, wenn das Baby jegliche Fremdfütterung verweigert und auf das Selbstessen besteht. Nanu, mag der Babylose sich wundern. Was ist falsch an Babys Bestrebungen zur Selbständigkeit?
Im Grunde nichts, gäbe es nicht die Nebenwirkungen, die sich statistisch in 6 Stunden Essen, 3 Stunden putzen und täglich einer zusätzlichen Wäscheladung niederschlagen.
Kaum hat das Baby sich ein Broccoliröschen geangelt, wird ein Drittel in den Mund gesteckt, ein Drittel in den Tisch massiert und ein Drittel an Wänden und Boden verteilt.
So saß ich wochenlang griesgrämig am Hochstuhl und beobachtete das eifrige Treiben – bis ich schließlich entdeckte, dass all das nicht Ausdruck eines ausgefeilten Mutterärgerprogrammes war, sondern dass es sich um Zeichen außergewöhnlicher Intelligenz meines Sprösslings handelte.
Nicht nur, dass er so eifrig physikalische Eigenschaften der verschiedenen Nahrungsmittel testete. Nein, er hatte mit schimpansenartiger Intelligenz auch ein System gefunden, wie man unhandlich große Stücke ohne Werkzeug in mundgerechte Happen zerlegte.
In einem Feldversuch lies sich eine eindeutige Korrelation zwischen Happengröße und Häufigkeit des Heruntergeschmissenwerdens ermitteln.
War das Baby am Ende satt, warf es dennoch die von mir akribisch zerkleinerten Essensbrocken auf den Boden.
Ich denke, es tut es basierend auf einer zehntausend Jahren alten Höhlenmenschentradition. Dort warf man die letzten Samenhülsen und Ähren ebenfalls auf den Boden, um Kleingeflügel wie Waldschnepfen anzulocken. Hatten die sich ordentlich fett gefressen, wurde ihnen der Hals herum gedreht und die Urmenschen konnten sich über eine saftige Schnepfenkeule freuen.

Wo die schönen Mädchen wachsen

Als intellektueller Mensch mit wenig Freizeit schaue ich in Ermangelung eines Fernsehgerätes ohnehin nie fern. Hätte ich einen, ich würde meine kostbare Zeit natürlich nur in interessante 3Sat- und Arte-Dokumentationen investieren.
Niemals würde ich Deutschland sucht den Superstar oder Germanys Next Topmodell anschauen. Deswegen müsste ich mich auch nicht fragen, was all die Gesangskrähen zu einer Bewerbung motiviert.
Vielleicht sollten die sieben Millionen Bewerber bevor sie vor Dieter & Co treten einfach mal unserem großen Kind vorgestellt werden. Das ist eine Art Soundgourmet. Wer falsch singt, fliegt raus. Meinen abendlichen Einschlafgesängen wurde freundlich aber bestimmt mit: „Vielen Dank, aber Du brauchst nicht mehr singen, hol’ bitte Papa.“ ein Ende bereitet.
Allerdings gäbe es dann keinen Grund DSDS mitzuverfolgen. Denn eigentlich schaute ich es nur wegen der peinlichen Bewerber. Würde ich also auch GNT mitverfolgen, so käme früher oder später die Frage auf, warum man da in der Vorrunde ausschließlich halbwegs taugliche Damen zu Gesicht bekommt.
Freilich glänzen sie vorderrangig nicht durch Gesichtsschönheit oder Geistesanmut. Doch sind weit und breit keine übermäßig behaarten, krummbuckeligen oder warzigen Damen zu sehen. Das finde ich – lässt man sich die Normalverteilung der Ästhetik kurz mal am Geiste vorbei ziehen – höchst verwunderlich.
Es muss sie doch auch geben, die Damen, die sich für wunderschön und liebreizend halten, die in Realität jedoch garstig und blatternarbig sind?
All diese vermisse ich. Entschuldigung! Würde ich vermissen, verfolgte ich diese Sendung mit. Doch darüber muss ich mir glücklicherweise keine Gedanken machen, denn ich schaue ja nie fern.

Survival of the Fittest

Das ganze Jahr über erzieht man die Kinder. Macht Vorgaben, gibt Richtlinien, korrigiert und ermahnt. Natürlich alles nur in bester Absicht. Doch der sprichwörtlich Bewanderte weiß, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Deswegen sind Ausnahmen wichtig. Alle fünf Jahre z.B. darf Kind 1.0 einen Film mit uns ansehen. Um die Seltenheit dieses Ereignisses wissend, verbringt es ein gutes Quartal mit der Filmauswahl und entscheidet sich dann spontan für eine aktuelle DVD und schafft damit eine nicht unbanale Herausforderung für die Eltern.
Denn aktuelle Filme sind eigentlich immer ausgeliehen und lassen sich leider nicht reservieren.
So klemme ich mir im Morgengrauen meinen Schlafsack unter den Arm, befülle die Thermoskanne mit Espresso und mache mich auf zur Videothek. Dort lege ich mich vor den Eingang und drücke mir die Nase an der Scheibe platt. Ein einziges Ausleihkärtchen für Ratatoille kann ich erspähen.
Es ist fünf Uhr und die letzten Jugendlichen finden ihren Weg von einem anstrengenden Ausgehabend nach Hause. Mitleidig schauen sie mich an und gelegentlich wirft einer eine Münze in den leeren Becher vor mir.
Noch sechs Stunden bis die Videothek öffnet. Doch ich werde den Film mit nach Hause bringen, das Kind wird glücklich sein, es wird dankbar sein, es wird ab da tun, was wir verlangen, es wird nie mehr widersprechen, es wird uns lieben, unsere Opfer zu schätzen wissen … doch halt! Dankbarkeit bei einem Kind? Ich muss eingeschlafen sein. Benommen reibe ich meine Augen und stelle fest, die Tür vor mir ist geöffnet. Gerade übersteigt mich ein ca. zwei Meter großer Kerl und peilt das Regal an, in wechem die von mir begehrte Ausleihkarte steckt.
Ich robbe im Schlafsack so schnell ich kann in den Laden. Indem ich mich um die eigene Achse rolle, erhöhe ich die Geschwindigkeit. 5 km/h, 10 km/h, 15 km/h. Endlich schnell genug, um dem Mann die Füße unter den Beinen wegzukegeln. Während er wie ein gefällter Baum zur Seite kippt, streife ich den Schlafsack ab und hechte an seine Hand. Noch hält er die Karte fest umschlossen, doch als ich ihm reinbeiße, kann er nicht standhalten. Die Karte segelt zu Boden, ich fange sie und eile zur Ausleihe.
Der Typ ist mit dem Kopf an den überdimensionierten Spiderman gefallen, der an der Ecke des Raumes den Film bewirbt.
Besser so für uns beide, denke ich und eile mit der DVD nach Hause, wo Kind 1.0 gespannt wartet.
Während der Film läuft, hole ich uns Erfrischungsgetränke aus der Küche als mein Blick zum Fenster des Hinterhofs schweift. Dort sehe ich gegenüber, eine Etage unter uns just den Koloss von eben, wie er mit hängenden Schultern zwischen vier weinenden Kindern steht.
Fast überkommt mich Mitleid, doch dann lasse ich das Rollo runter. Wäre er eben früher aufgestanden. Das Leben ist kein Ponyhof.

Batzen

Seit meinem 28. Lebensjahr bin ich nahezu komplexfrei. Sehr hartnäckig hielt sich mein Batzen-Komplex. Die Induzierung des Komplexes ist eindeutig nachvollziehbar und betrifft auch andere weibliche Mitglieder meiner Familie.
Als ich nämlich ein Baby war und aussah wie eine zusammengestauchte Weißwurst, nannte meine Mutter meine dicken Ringelfettbeinchen Bätzchen.
Das Fett verwuchs sich, doch das Wort verlor lediglich seine Verniedlichung. Wenn ich heute Bilder aus meinen Teenagerzeiten sehe, hätte ich ob meiner wunderbaren langen und sehr schlanken Beine locker bei den Bewerberinnen von Germanys Next Topmodel mitstaksen können. Dennoch nannte meine Mutter meine Beine Batzen.
Das war zu viel für meine zarte, pubertierende Teenagerseele. Die Batzen folgten mir an jeden Ort. Sätze wie „Ach, im Bikini kommen Deine schönen Batzen so richtig zur Geltung“ oder „Der Rock betont Deine Batzen ganz bezaubernd“ ließen mich einen ausgesprochenen Schlabberhosenfreund werden.
Als ich neulich mein Kind wickelte, entwich mir tatsächlich: „Ohhhh, Du hast ja süße Bätzchen!“ Ich habe mich sofort mehrere Stunden ausgepeitscht.

Plöp – da wars

In fast jeder Familie gibt es die Tradition, dass die Mutter Jahr für Jahr die Geschichte der Geburt am Geburtstag des Kindes berichtet. So kommt es, dass man spätestens nach zehn Jahren Berichterstattung das Gefühl hat, man weiß wirklich jedes Detail über diesen Tag.
Als meine Mutter beispielsweise mutmaßte, ich würde nun bald geboren werden, packte mein Vater sie voller Elan in den Fiat 500 und raste mit Höchstgeschwindigkeit – sämtliche roten Ampeln missachtend – ins Krankenhaus. Dort verabschiedete er vorfreudig seine Ehefrau und bat sie, ihn telefonisch zu informieren, sobald ich geboren sein würde.
Meine Mutter bekam ein bisschen Lachgas und zwanzig Stunden später erblickte ich das Licht der Welt. Ich war gelb und es war der heißeste Tag Mitte der 70er Jahre.
Pünktlich um 15.09 Uhr ruft mich meine Mama nun jedes Jahr an und erzählt diese Geschichte. Jahr für Jahr für Jahr.
Jetzt habe ich eine eigene Geschichte, die ich meinem Kind erzählen kann. Wunderbar! Und noch besser. Ich kann sie auch meiner Mutter erzählen. Jahr für Jahr für Jahr!
An meiner Geschichte zeigen sich übrigens sowohl Charakter als auch Zeitgeistunterschiede. Zur Geburt fuhr ich nämlich mit der Tram. Der Geburtszeitpunkt war exakt auf den Terminkalender des vielbeschäftigten Vaters abgestimmt und ich erledigte das Ganze, gerechnet von der ersten Wehe bis zum Erscheinen des Kindes, in 2.5 Stunden. Die Hebamme hatte 13 Uhr vorhergesagt, doch da versagten meine deutschen Gene und ich gebar mit fünf Minuten Verspätung.
Kind 1.0 sagte beim Anblick des Geschwisters: „Hätte ich mir nicht so zerquetscht vorgestellt, aber Hauptsache der Charakter stimmt.“
Dies ist die Geschichte, die ich Kind 2.0 bis an mein Lebensende erzählen werde.