
Unbeschwerte Kindheit trotz weltpolitischer Krisen
1995 habe ich Abitur gemacht. 1975 bin ich geboren.
Natürlich hatte ich in der Schule auch Geschichte und dadurch einen groben Plan, welche Krisen die Welt, welche Krisen Deutschland in meiner Kindheit und Jugend durchlebt hat.
Tatsächlich aber war ich bis in die 90er im Großen und Ganzen sorglos. Es gab nur wenig, das ich aktiv mitbekommen hatte. Tschernobyl (1986) zum Beispiel. Für mich als Kind bedeutete das eine zeitlang Spielplatzverbot und wir hörten auf Pilze zu sammeln, etwas, das ich als Kind sehr gerne mit meinen Eltern gemacht habe.
Ich bin in Bayern groß geworden und wir hatten einen Hund, was bedeutete, dass wir jeden Sonntag lange Spaziergänge im Wald gemacht haben.
In der Herbstzeit haben wir die Spaziergänge genutzt, um Pilze zu sammeln. Trompetenpilze, Steinpilze, Maronen hauptsächlich. Wir haben alle Pilze in einen Korb gepackt und sind dann zu einer alten Frau, die sich mit Pilzen sehr gut auskannte. Sie kam mir damals wie eine Hexe vor.
Ich erinnere mich an eine kleine, sehr faltige, gebeugte Frau, die uns an einem Steintor erwartete. Sie schaute sich an, was wir gesammelt hatten, sortierte die ungenießbaren Pilze aus, behielt einen kleinen Anteil für sich und dann gingen wir nach Hause, machten die Pilze sauber und kochten sie.
Mit Tschernobyl war das vorbei.
Dann in den 90ern, ich war schon im Gymnasium und hatte das Fach „Politik und Zeitgeschichte“ belegt, sorgten wir uns als der zweite Golfkrieg (1990) ausbrach.
Genau in diesem Sommer war ich mit meinen Eltern in Istanbul bei Freunden zu Besuch. Diese hatten große Angst vor möglichen Folgen und Eskalationen. Ich meine mich düster zu erinnern, dass sie sogar mit Gasmasken und anderen Sachen ausgestattet waren, um sich vor Biowaffen zu schützen. Sie baten uns Istanbul zu verlassen und zurück nach Deutschland zu gehen.
Sonst war meine Kindheit und Jugend völlig unbeschwert. Ich habe nichts mitbekommen.
Wie ging es damals meinen Eltern?
Heute, da ich selbst Mutter bin, frage ich mich, wie das damals für meine Eltern war. Haben sie sich ständig gesorgt? Waren sie geschockt von dem was passierte? Wie viel bekamen sie mit?
Vom Kalten Krieg (von der Nachkriegszeit bis 1989) hörte ich beispielsweise wirklich erst im Geschichtsunterricht.
Auch für den Deutschen Herbst (1977) war ich natürlich viel zu klein. Aber wie haben sich meine Eltern gefühlt?
Was will ich eigentlich sagen? Ich will sagen, ich bin voller Sorge. Ich weiß auch gar nicht, was mich am meisten sorgen soll. Die Aussicht auf einen Präsidenten Trump? Die Zustände in den „Flüchtlingsländern“? Der Terror, der langsam über Spanien und Frankreich nach Europa zieht? Dass Europa langsam zerbricht? Die Zustände in der Türkei? Schießereien in den USA? Amokläufe in Frankreich? In Deutschland?
Für mich bleibt auch die Frage „Darf ich mich weigern bestimmte Dinge sehen zu wollen„?
Den Putsch in der Türkei und den Amoklauf in Nizza und auch den in München habe ich auf Twitter mitbekommen. Ich wurde überflutet von Nachrichten und Fotos. Das Problem ist nur: die Nachrichten sind im Grunde alle inhaltslos. Die meisten Bilder sind verstörend, für die Menschen vor Ort vielleicht sogar gefährlich und ich kann ihren Wahrheitsgehalt nicht ausmachen. Trotzdem fällt es mir schwer nicht durch meine Timeline zu scrollen.
Das erste Mal war ich auch froh, dass Facebook diese „markiere, dass du dich in Sicherheit befindest“-Funktion hat. Denn ich habe sowohl Freunde in Nizza als auch in München.
Gestern habe ich mich gefragt, ob 2016 wirklich ein schlimmes Jahr ist oder ob einfach die Transparenz höher ist. Ob mich Nachrichten leichter erreichen.
Ich habe erst seit knapp zehn Jahren ein Smartphone und Accounts bei facebook, Twitter und Co.
Davor war alles ruhig. Ich hatte nicht mal einen Fernseher.
Durch Twitter wird jede Katastrophe zum 11. September
Mit Ausnahme des 11. Septembers 2001 habe ich nie etwas live mitbekommen. Wenn etwas passierte, dann habe ich das morgens in den Schlagzeilen der Zeitungen gelesen, die in den Kiosken auslagen.
Wie hypnotisiert saß ich am 11. September vor dem Fernseher eines Freundes. In Dauerschleife sah ich Flugzeuge in das World Trade Center fliegen. Immer und immer wieder. Stundenlang.
Dann sah ich irgendwann Menschen aus den Gebäuden springen. Kleine, schwarze Flecken. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Erst da habe ich den Fernseher abgeschaltet.
Durch Twitter sind quasi alle Katastrophen, alle Anschläge, alle Amokläufe so nah wie der 11. September. Das ist unerträglich und hilft niemanden.
Deswegen wünsche ich mir die Zeit zurück, in der mich Zeitungen am nächsten Morgen oder Tag erst informierten. Ich wünsche mir die Zeiten zurück in denen Journalisten nicht senden und posten sondern nachdenken und recherchieren dürfen.
Ich will mir nicht von einzelnen Tweets angetrieben in Panik Infos auf Wikipedia selbst zusammensuchen und versuchen zu erahnen wie sich Geschehnisse auswirken könnten.
Ich möchte, dass es weiterhin Experten gibt und zwar Experten, die sich jahrelang mit einem Thema beschäftigt haben, die Zusammenhänge und Akteure kennen, die über ihre Wortwahl nachdenken können. Die Durchatmen dürfen und sich überlegen, ob sie wirklich von Terror sprechen müssen, ob es wirklich hilfreich ist irgendein Land zu benennen, in dem womöglich die Eltern eines Täters geboren wurden.
Ich möchte keine Experten, die Experten werden, weil sie vor Ort ein Foto posten.
Kann Journalismus bitte wieder mehr sein als die schnellste Mutmaßung zu äußern und das erste Foto zu veröffentlichen?
Wirklich.
Die Liveticker, die Bilder, nichts davon ist hilfreich.
Ich werde deswegen in Zukunft das tun, was ich als Kind bei Löwenzahn gelernt habe – abschalten (und dann abwarten bis es fundiertere Analysen und Schilderungen gibt).
Nachträgliche Ergänzung:
„Die Zeitläufte sind leider so, dass öffentlich-rechtliche Sender mittlerweile fast im Monatsrhythmus an den Pranger gestellt werden, wenn sie nicht ohne Zögern und ohne Zeitbegrenzung „drauf gehen“. […]
Es ist niemandem geholfen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich mit ihren traditionell ausgestrahlten Programmen auf ein Rattenrennen mit Social Media einlassen. Oder Netzfunde unreflektiert weitergeben.“
Quelle: Claus Kleber über Fernsehjournalismus
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