Ich erinnere mich gut an den Geschichtsunterricht in der Schule und meine damals kindliche Bedrückung, mein Entsetzen und mein Unverständnis als wir über das 3. Reich sprachen. Wie hat das alles passieren können? Es gab doch einen Anfang? Warum haben nur so wenige etwas getan? Naiv hat sich bei mir eine Art Verteilung der Handelnden ergeben: Eine kleine Gruppe von Menschen, die sich aktiv gegen all die Geschehnisse gewehrt haben, ein breites Mittelfeld schweigender Menschen, die weggeschaut haben und eine vergleichsweise kleine Gruppe Menschen, die Macht hatten und diese Gräueltaten verübt oder veranlasst haben.
„Habt ihr von all dem nichts gewusst? Warum habt ihr nichts getan?“
Ich habe diese Frage nie aktiv jemanden gestellt. Da war sie immer. Ich wollte schließlich begreifen, wie all der Hass, diese völlige Entmenschlichung, diese Abkehr von allem Guten stattfinden konnte.
Im Kopf spule ich 20 Jahre nach vorne. Meine Kinder sind groß. Clausnitz, die Pegida-Demonstrationen, all die Angriffe auf Flüchtlingsheime sind Teil der Geschichte. Ich möchte mir im Detail nicht ausmalen, in welcher Welt wir 2036 leben. Aber ich will eine Antwort haben auf die Frage: „Habt ihr von all dem nichts gewusst? Warum habt ihr nichts getan?“
Denn ich habe es gewusst, ich habe es gesehen. Ich habe mir Videos mit Unbehagen angeschaut und schließlich mit Tränen in den Augen. Ich habe mich geschämt, ich war entsetzt und ich war fassungslos. Ich bin es noch.
In meinen Kopf geht nicht rein, was dort (z.B. in Clausnitz) passiert. Ganz im Detail. Was passiert da?
Ich lese „Mehr als 100 Protestierende stellten sich dem Bus in den Weg„. Ich google den Ort und die Einwohnerzahl. Clausnitz ist ein Ortsteil der Gemeinde Rechenberg-Bienenmühle. Die letzte Angabe der Tabelle: 1990 gab es 1.151 Einwohner. Die Jahre davor schrumpft die Einwohnerzahl. Vielleicht sind es ein paar weniger, vielleicht ein paar mehr. Am Abend des 18. Februars kommt ein Bus mit 30 Asylsuchenden in der Ortschaft an. Irgendwie spricht sich das rum**. Übers Knie gebrochen zieht sich jeder 8. Einwohner des Ortsteils* an (manche nehmen sogar ihre Kinder mit) und versammeln sich am Ankunftsort. Was genau wollen sie? Warum ziehen sie ihre Jacken und Schuhe an dem Abend an?
Der Bus kommt an und die Asylsuchenden sollen in die vorgesehene Unterkunft. Die Protestierenden stellen sich dem Bus entgegen, umzingeln ihn. Wissen sie genau was sie da tun? Haben sie sich vorher schon Sprüche ausgedacht, die sie brüllen können? Einer? Drei? Fünf? Zehn schreien „Wir sind das Volk!“ Duzende stimmen mit ein.
Sie stehen also um diesen Bus herum, brüllen aus vollem Halse und blicken auf einen Bus voll mit verängstigten Menschen. Einige von ihnen fangen an zu weinen. Wenn ich das auf dem Video sehen kann, haben die Menschen die da waren, es erst recht gesehen. Sie schreien weiter. Da steht am Ende also ein hasserfüllt schreiender Vater und brüllt so laut er kann einigen weinenden Flüchtlingskindern, Frauen und Männern entgegen: „Wir sind das Volk“ und „Ausländer raus!“ und andere Ekelhaftigkeiten. Sieht er nicht, dass das Menschen sind? Kinder? Kinder verdammt nochmal. So wie seine?
Was ist da kaputt? Was zur Hölle ist kaputt bei diesen Menschen?
Ich sehe täglich Bilder von Flüchtenden und lese Artikel. Ich sehe Bilder der Städte aus denen sie fliehen, ich sehe Familien mit ihren Kindern, die Tausende von Kilometern zurück legen, die alles zurück lassen, die das eigene Leben und das ihrer Kinder riskieren, um von dort wegzukommen, wo sie aufgewachsen sind, wo sie gearbeitet haben, wo ihre Familie und Freunde gelebt haben. Unvorstellbar schlimm finde ich das. Ich kann mir nicht vorstellen wie schlecht es mir gehen müsste, wie viel Angst ich haben müsste, wie verzweifelt ich sein müsste, um so eine Entscheidung zu treffen.
Und dann sehe ich wieder das Video von Clausnitz an, sehe den wütenden Mob und frage mich: Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass sie mehr Angst als Mitgefühl haben?
In mir kommt nach der Hilflosigkeit und der Wut über diesen menschenverachtenden, rechten Mob in Clausnitz wirklich sowas wie Hass auf. Warum wird da nichts unternommen? Warum wird da nicht rechtlich gegen vorgegangen? Ich kenne die Rechtslage nicht, aber wird da nicht gegen etwas verstoßen? Kann man sich einfach irgendwohin stellen, Menschen zu Tode verängstigen und menschenverachtende, rechte Parolen rumschreien?
Und wenn ich dann all die Wut, die Hilflosigkeit und das Entsetzen im mir spüre, dann schwant mir: so wird es nicht weitergehen. Hass gegen Hass gegen Hass. Das bringt nichts. Es muss doch andere Wege geben. Aufklärung? Die Menschen in der Region haben offensichtlich Angst. Sie hatten sie vermutlich vorher schon und wurden angeheizt durch das was durch diverse Parteien (wie der AfD) vor Ort weiter angeschürt wird.
Es muss doch Konzepte geben. Kann nicht eine Task-Force Aufklärung gegründet werden, die vor Ort Gemeindemitglieder, Polizei und was weiß ich wen schult? Meine Güte ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, aber irgendwas muss doch getan werden. Vor Ort und auch anderen Orten.
Und die Medien – die Zeitungen und das Fernsehen und ihre immer währende Hetze. Es ist ekelhaft. Ich habe neulich mal eine Stunde ferngesehen. Es ist unfassbar wie da „berichtet“ wird. Unerträglich. Nach 60 Minuten wusste ich wieder, warum ich keinen Fernseher habe.
Und am Ende, hätte ich gerne eine Antwort auf die Frage „Warum habt ihr nichts getan“. Ich weiß gerade nicht, was ich tun kann. Was ich tun muss. Wirklich muss. Ich will diese Entwicklungen nicht mehr dulden. Ich will nicht Teil einer fremdenfeindlichen Kultur sein. Ich will ein Mensch bleiben. Menschlich sein, Mitgefühl haben, Empathie. Ich will nicht zuschauen und alles geschehen lassen.
*Der Bürgermeister sagt, es habe viele „Demonstrationstouristen“ gegeben.
** Die Ankunft des Busses soll nur wenigen bekannt gewesen sein, einer davon sei der Leiter des Asylheims gewesen sein, der selbst Mitglied der AfD sein soll