Mein Freund ist so unbescholten wie Maria zum Kinde gekommen.
Wenn man selbst aktiv Kinder bekommt, sich also wirklich entscheidet: Jetzt will ich ein Kind, dann weiß man zwar nicht mehr oder ist irgendwie besser qualifiziert als jemand anders – aber ich denke mir oft – man hat sich wenigstens bewußt entschieden und wächst so langsam rein in die Sache.
Das Reinwachsen wird außerdem durch Hormone begünstigt und durch den stetigen Schlafmangel ist man ja auch leicht verblödet, so dass man vieles zu Beginn gar nicht so richtig registriert.
Mein Freund allerdings, der ist irgendwie in diese Sache reingeraten und manchmal beobachte ich ihn und habe ein bißchen Angst, dass er sich fragt: Was mache ich hier eigentlich und warum zur Hölle?
Neulich zum Beispiel waren wir mit den Kindern im Kino.
Nachmittagsvorstellung in einem Kleinstadtkino. Es sei schon ziemlich voll, sagt die Ticketverkäuferin, ob wir Popcorn wollen. Ach! Was kostet die Welt, denke ich, wir haben Ferien, na klar wollen wir Popcorn.
Wie groß soll die Packung sein? Mittel? Ich stimme zu. 43 Euro mit den Eintrittskarten.
43 Euro!
DREIUNDVIERZIG EURO? Na klar. HAHAHAHAHa.
Aber es sind ja Ferien.
Das eine Kind muss jetzt noch dringend pullern, dem anderen reiche ich die gigantische Packung Popcorn. Wollte man ein Baby mit in den Kinosaal schmuggeln, die mittlere Packung Popcorn böte eine hervorragende Möglichkeit.
Ich reiche also den Umzugskarton Popcorn an das andere Kind weiter, hier, ups, nicht aufgepasst, das Popcorn fällt auf den Boden. Überall Popcorn. Popcorn! Knirsch. Hier, da, überall, knirsch, knirsch.
Ich weiß nicht, wie ich jetzt all das Popcorn aufheben soll, das andere Kind derweil: ICH MUSS JETZT ABER WIRKLICH PULLERN.
Knirsch, knirsch, wir laufen durchs Popcorn, der Freund winkt mir aufmunternd zu. Ich glaube, das soll heißen, er kümmert sich.
Im Klo dann das Kind voller Panik, der Film könne schon anfangen – für Händewaschen sei da wirklich keine Zeit. Doch, nein, doch!
Tatsächlich ist das Popcorn am Rückweg bereits zum größten Teil verschwunden.
Wir laufen die Treppe hoch. Kinosaal 4.
Es ist wirklich voll. Wir setzen uns auf unsere reservierten Plätze. Hinter uns sitzen Kinder, die auf eine gefühlt 3 cm lange Ablage Popcorn (die GROSSE PACKUNG!), Nachos mit Käsesoße und 0,5 l Softdrinks abgestellt haben.
Ich schaue auf die Leinwand. Sehr klein. Erst als nach der Werbung der Vorhang aufgezogen wird, ist die Leinwand so groß wie beim Freund in der Wohnung.
Überall raschelt und knistert es. Kind 3.0 weint, weil der Freund es wagt vom verbliebenen Kubikmeter Popcorn drei Popkörnchen essen zu wollen.
„Nein! Man wartet bis der Film anfängt! Nicht vorher essen!!!“
Da! Der Film beginnt.
„Ist das deren Ernst?“, fragt der Freund zweifelnd. Der Ton, er ist zugegebenermaßen ein wenig sehr leise.
„Die machen das wegen der Kinder ein bisschen leiser als sonst“, versuche ich zu erklären.
„Ein wenig leiser, das ist OK, aber die Soundanlage AN-machen könnten sie doch, oder?“
Hinter uns knuspern die Kinder Nachos, schlürfen durch die Strohhalme nicht enden wollende Softdrinkmassen, knabbern Chips und Popcorn. Die Kinder unterhalten sich in Zimmerlautstärke und machen sowas wie Audiodeskription für Gehörlose: „Jetzt fährt er über den Platz und gibt richtig Gas. Man sieht das am Tacho. Tacho ist die Anzeige da vorne, Mama!“
Einige haben den Film schon gesehen und schreien jede Szene, die einen überraschen könnte, vorher schon eine Inhaltsangabe: „DER IST NICHT TOT!“ „DER BÖSE GEWINNT NICHT!“ „GLEICH KOMMEN DIE RETTER UM DIE ECKE.“
Ich stelle mir einen Raum voller sensibler Twitterer vor und dann diese Kinder, die jede Szene bei Game of Thrones spoilern. Da wär‘ aber was los hier!
Im Augenwinkel betrachte ich meinen Freund. Er hat sich nach vorne gebeugt. Er muss synchronisierte Filme schauen, er bekommt ständig von rechts und links das Popcorn weggenommen und hat gerade wirklich viel Geld gezahlt, um auf eine Leinwand zu schauen, die kleiner als seine eigene ist. Dabei sind die Umgebungsgeräusche ein bisschen lauter als der Film selbst.
Dennoch wirkt er entspannt. Ich weiß nicht warum, doch ich versuche das nicht zu hinterfragen.
Eine lustige Szene. Alle Kinder im Saal grölen. Einige springen auf. So z.B. die hinter uns mit dem Eimer Limo auf der 3cm Ablagefläche. Das Getränk schwankt, es wackelt, neinneinennein, doch, leider doch, es kippt nach vorne auf meinen Freund.
Der reagiert sehr gelassen. Langsam werde ich skeptisch. Der nimmt ja wohl hoffentlich keine Drogen, wenn wir mit den Kindern unterwegs sind?
Vor mir in der Bank eine leere Tüte Chips. Probeweise raschle ich mit dem Silberpapier. Ah, doch, eine Reaktion. Er hat doch noch Reaktionen. Alles gut. Ich schaue liebevoll in seine blutunterlaufenen Augen.
Es ist mir rätselhaft. Vor den eigenen Kindern darf man ja nicht weglaufen, auch wenn man es manchmal gerne täte (man darf das schreiben, die Kinder würden ja auch manchmal gerne vor den eigenen Eltern weglaufen und man tut es jeweils nicht, weil man doch familiär gebunden ist), warum jemand, der ganz einfach weglaufen könnte, nicht läuft, es ist mysteriös.
Ich halte seine Hand. Morgen soll er als Zeichen meiner Dankbarkeit bis 7.45 Uhr ausschlafen dürfen. Das hat er sich mit seiner stoischen Gelassenheit allemal verdient.