Pictoplasma 2013 – es ist (wieder mal) Liebe

Bis Sonntag, den 14. April läuft das Pictoplasma-Festival noch. „Pictoplasma is an organisation dedicated to the art of character design, and are notable for bringing it into the mainstream.
Ich habe nach einem deutschen Ausdruck gesucht, der the art of character design so beschreibt, dass man versteht, um was es geht, aber ob da figürliche Darstellung mehr aussagt… hm. Für mich als Laie ist das Comic-Kunst in allen Erscheinungsformen – egal ob Illustration, Skulptur oder Graffiti.

2009 gab es die große Pictopia Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt. Von dort kenne ich das Pictoplasma-Festival. Wir sind zufällig auf das Festival gestoßen. Keine Werbebroschüre dieser Welt hätte uns wohl hingelockt. Denn egal wo ich etwas dazu lese, ich verstehe fast nichts. Ähnlich wie bei der Transmediale. Auch da wird in aufgeblasenen Worten etwas beschrieben und wenn ich es nicht ohnehin schon kennen würde, ich würde niemals hingehen.

Ich sehe in diesem Bereich eine echte Marktlücke. Die Organisatoren solcher Festivals scheinen so – nennen wir es – betriebsblind zu sein, dass sie nicht mehr die Perspektive des (Kunst)Konsumenten einnehmen können und mit Worthülsen und so verwirrend die einzelnen Projekte beschreiben, dass man (zumindest ich) absolut nichts mehr versteht. Ich klicke mich durch die Webseiten und bin froh, wenn ich rausfinde, zu welcher Zeit die Ausstellung überhaupt stattfindet. Der Rest – böhmische Dörfer.

Ohne die entsprechenden Bilder, die Werke der Künstler zeigen, käme ich nie auf die Idee mir das Ganze anzuschauen.

Dieses Jahr nehmen 22 Galerien am Pictoplasma-Festival teil. Von heute an, sind sie von 12 bis 20 Uhr geöffnet, um insgesamt 27 KünstlerInnen zu präsentieren. In jeder teilnehmenden Galerie liegen Karten aus, die zeigen wo die anderen Galerien zu finden sind.

Richtig cool wäre es natürlich wenn die Organisatoren eine öffentliche Karte angelegt hätten. Oder wenn es eine App gäbe, die einem den Weg zeigt. So irrt man je nach Ortskundigkeit ein bisschen mit der Papierkarte durch die Gegend.

Wichtig zu wissen ist vielleicht noch, dass nicht alle Projekte bereits ausstellungsreif sind. Einige Werke entstehen erst während des Festivals. Einige Galerien sind ein bisschen schwierig zu finden, selbst wenn vorne das Pictoplasma-Fähnchen dran hängt. Manchmal muss man beherzt in eine offen stehende Tür, einen Hinterhof oder in eine Bar treten, um erst nach einigen Schritten festzustellen, dass man richtig ist. Selbst wenn man böse angeschaut wird. Das sind dann nur einige der Künstler, die offensichtlich nachtaktiv sind oder von all den fremden Menschen nichts halten.

Wenn ich 22 Galerien geschrieben habe, dann stimmt das nur bedingt. Ausstellungsorte wäre richtiger. Manche Künstler werden nämlich in Räumen von Bars oder Bekleidungsgeschäften ausgestellt. In jedem Fall lohnt der Spaziergang durch die besagten Ausstellungsorte. 14 davon befinden sich in Mitte, die restlichen sind in Kreuzberg.

Wir haben für die 14 Orte rund 4 Stunden gebraucht. Mehr Zeit hatten wir auch nicht. Danach waren wir total platt. Laut Tracking-App waren das über 11.600 Schritte und gut 8 km. Man muss schon SEHR ehrgeizig sein alles sehen zu wollen. Wir splitten deswegen lieber auf zwei Tage.

Der Spaziergang durch die Ausstellungsorte nennt sich Character Walk und ist kostenlos.

Gut die Hälfte der Werke hat mich total begeistert. Also begeistert wie ich bin kurz davor die gelegentlich anwesenden KünstlerInnen zu umarmen und ihnen zu danken, dass sie mir mit ihren Werken so viel Freude bereiten. (Viele von ihnen findet man übrigens auf instagram. So hält die Freude auch noch nach dem Festival an).

Nachfolgend meine Highlights. Ich bin keine Kunstexpertin, deswegen maße ich mir gar nicht erst an, die Werke der Künstler zu beschreiben. Am Besten einfach den Link klicken und sich selbst einen Eindruck verschaffen. Es ist auch möglich meine Bilder auf instagram anzuschauen und dort einfach mit dem Hashtag #pictoplasma weiter zu suchen.

Francisco Miranda zu finden in den Ausstellungsräumen General Public in der Schönhauser Allee 167c 
(leider kein Bild)

Anna Hrachovec zu finden in der Galerie small place in der Brunnenstraße 178/179
Anna Hrachovec

Andrea Wan (auf instagram @andrea_wan) und Felt Mistress (auf instagram @feltmistress) in der Galerie Sur la Montagne in der Torstraße 170
Andrea Wan
Felt Mistress

Sehr sehenswert auch der Weg zur neurotitan Galerie im 2. Hinterhof der Rosenthaler Str. 39 (1. Etage) mit AARGH and MONKEY sowie Cherry
AARGH
Cherry

Vor Begeisterung geplatzt bin ich dann fast bei den Werken von Juan Carlos Paz aka BAKEA (auf instagram @bakea) im Instituto Cervantes in der Rosenstraße 18/19 (Hier nicht aufgeben, eine der vier Türen ist wirklich geöffnet!)
Bakea

Eine Übersicht aller KünstlerInnen ist auf der Seite des Pictoplasma-Festivals zu finden.
Als Service hier die verkürzte Runde mit meinen persönlichen Highlights als Google Map.


View Character Walk #pictoplasma #berlin #2013 in a larger map

Playmobil-Lobhudelei

Dieser Artikel ist nicht gesponsort, aber ich dachte bei all dem Netzgemeckere, kann ich doch auch mal über etwas bloggen, was mich begeistert. Jedenfalls habe ich vor kurzem meine Leidenschaft für Playmobil entdeckt entdeckt, dass ich Playmobil für meine Kinder toll finde. Das hat mehrere Gründe.

Playmobil bildet die Vielfalt der Welt nach. Den meisten Spielzeugserien, das unterstelle ich mal, sieht man die eindeutige Geschlechtszuordnung an. Piraten, Ritter, Polizei für Jungs. Prinzessinnen, Puppenhäuser, Kinder/Tierpflegeszenario für die Mädchen. Das hat Playmobil natürlich auch – aber und jetzt kommt das große Aber aus meiner Sicht – all diese Welten sind offen für beide Geschlechter. Es gibt nämlich innerhalb dieser Welten Piratinnen und Polizistinnen oder Agentinnen. Playmobil geht dabei noch weiter und hat sogar Diebinnen etc. im Sortiment. Es gibt in meiner Wahrnehmung also keine klischeehafte Zuordnung wie z.B. Mädchen – lieb/unschuldig oder Jungs – Aktionhelden/verschlagen etc. Es gibt auch Figuren mit allen erdenklichen Haar-, Bart- und Hautfarben und das finde ich richtig toll. Selbst die „Mode“ der Figuren ist nicht so beschränkt wie man das sonst so kennt (rosa/Mädchen und schwarz/blau/Jungs). Da wird mit viel Liebe zum Detail gestaltet und es gibt auch Jungs in farbenfroher Kleidung und Frauen in Arbeitskleidung (z.B. Notärztin, Feuerwehrfrau, LKW-Fahrerin, Lotsin) etc.

Wenn ein Mädchen sich also für das Feuerwehrsortiment interessiert – dann gibt es eben auch weibliche Figuren, mit denen es sich identifizieren kann und mit denen es die selben Heldengeschichten ihrer Phantasie nachspielen kann. Umgekehrt kann ein Junge super in der Prinzessinnenwelt spielen und zwar nicht nur als Ritter sondern als König, als Prinz, als Hofnarr und im Puppenhaus kann er auch als Papa in Aktion treten und sich ans Bügelbrett stellen oder die Wäsche machen.

Lediglich die neue Feenwelt hat keine männlichen Figuren – was die kleinen Jungs in unserem Haushalt SEHR bedauern. Vielleicht zieht Playmobil da noch nach. Ansonsten wirklich ein großes Lob. Auch in der Unterwasserwelt gibt es z.B. neben den schönen Meerjungfrauen, die Meermänner.

(Ein bisschen schade ist es, dass das so ganz und gar nicht beworben wird – das muss man leider sagen. Die Kataloge sind schön nach Mädchen/Junge aufgeteilt, aber es lohnt genauer hinzusehen…)

Abgesehen von den Standardlebewelten (Ritter, Polizei, Prinzessin,…) gibt es zusätzlich eine unglaubliche Vielfalt an Themen. Von Zoo über Zirkus, Tierpark, Baumhäuser, Unterwasserwelt, Baumarkt, Tuningwerkstatt, das alte Rom, Ägypten, Safari, Arktis, Camping bis zur Alpenwelt und vieles, vieles mehr. Einzig das Raumschiffthema scheint gefloppt zu haben, denn da gibt es fast nichts (und das was es gibt, stammt aus den 90ern).

Sehr bedauerlich. Liebes Playmobil, wenn ihr das hier lest und geheime Kammern mit Restbeständen habt und mir eine Freude machen wollt, meine Adresse steht im Impressum, ich finde v.a. die Aliens und die Roboter sensationell…

Außerdem produziert Playmobil in Deutschland. Auch das eine Sache, die mir sehr gefällt. Preislich finde ich es (auch im Vergleich zum Konkurrenten, der sicherlich einiges an Lizenzkosten an den Kunden weitergibt) alles im Rahmen. Playmobil verzichtet auf Merchandiseartikel jeder Form.

Und wenn wir schon beim Lobhudeln sind (möge der Flauschsturm über das Unternehmen kommen), es gibt in Zirndorf einen Playmobilthemenpark. Weil meine Eltern da wohnen, fahren wir jedes Jahr hin. Das kann ich allen empfehlen. Für mich der schönste Kinderbespaßungspark, den ich kenne. Die Kinder bewegen sich frei durch überdimensionierte Figurenparks, es gibt keine Fahrgeschäfte sondern eine Aneinanderreihung von vielseitigen Spielplätzen, die Kinder ab 2 begeistern können. Selbst das große Kind 1.0 findet den Park noch interessant. Es gibt darüber hinaus viele Wasserspielmöglichkeiten und im Gegenzug dazu Trockner. Falls das Kind mal zu enthusiastisch ans Wasser rennt. Es gibt viel Schatten – oft auch durch große Sonnensegel „hergestellt“. In den Bäumen hängen Wespenfallen, was v.a. im Hochsommer dafür sorgt, dass Kinder beispielsweise Eis essen können, ohne dass die Eltern tausend Tode sterben müssen. Habe ich schon gesagt, dass ich die Eintrittspreise erschwinglich finde? Nicht mal die Hälfte von dem was sonst so verlangt wird. Insgesamt für mein Empfinden wirklich durchdacht und familienfreundlich.

Die Kinder können sich frei bewegen, sie sind nicht auf die Eltern angewiesen, um Spaß zu haben – d.h. z.B. ich muss nicht Karussell fahren, bis ich mich erbrechen möchte.

Tja. So ist das, wenn ich ins lobhudeln komme.

Einziges Verhängnis für mich als Sammelneurotikerin ist natürlich, dass man NIEMALS und zwar NIE NIE NIEMALS alle Teile haben kann. Auch nicht wenn man hundert Jahre auf Flohmärkten sucht oder auf ebay lauert. Das finde ich natürlich doof.

Und jetzt liebe LeserInnen, dürft ihr mich gerne zerfleischen, wiel ich gelobt habe und meine Seele sogar kostenlos verkaufe. So blind bin ich in dieser konsumorientierten Welt etc. etc. Vielleicht findet sich ja im Kommentaromat eine passende Beschimpfung.

Nachtrag: Es wird nicht nur in Deutschland hergestellt. Ein wesentlicher Teil der Produktion kommt aus Malta. Vgl. „Playmobil produziert Milliarden Figuren auf Malta

Zur Verteilung:

 

Theorie und Praxis Internet

 

Als Elter hat man es nicht leicht. Jedes Jahr muss man neue Dinge lernen. Es fängt direkt nach der Geburt an und ich fürchte, es hört nie auf. Selbst bei den Themen, in denen man sich vermeintlich auskennt: dem Internet beispielsweise.
Jetzt bin ich ja wirklich alles andere als technologiefeindlich eingestellt, aber seit das älteste Kind aktiv das Internet mitgestaltet, möchte ich einfach alles verbieten. Jedenfalls bis wir ALLES einmal durchgesprochen haben.
Das dürfte ungefähr mit Vollendung des 18. Lebensjahres der Fall sein.

Wie bei vielen fing es mit YouTube an. Wie ich bei Netzgemüse gelesen habe, kein unüblicher Weg. Zunächst schauen sich die Kinder um. Da fängts schon an. Was dürfen sie gucken – und was nicht? Warum sollen sie etwas nicht dürfen und wie kann ich verhindern, dass das Kind in meiner Abwesenheit verstörende Videos anschaut? Plus – wenn es jüngere Geschwisterkinder gibt: Wie halte ich sie davon ab, Dinge zu sehen, die das ältere Kind sehen darf. Allein das ist schon ein riesen Problem. Denn einerseits möchte ich auf gar keinen Fall, dass das „große“ Kind (das noch altersmäßig deutlich unter der Grenze liegt, in der es z.B. offiziell Facebook benutzen darf) alleine im eigenen Zimmer Internet konsumiert. In den anderen Zimmern können aber die jüngeren Geschwister sein. Also diese ins zweite Kinderzimmer und mit dem großen Kind gemeinsam den Rundgang durchs Internet machen?
Wie viel Privatsphäre hat ein minderjähriges Kind? Darf oder muss ich den Browserverlauf anschauen? Darf ich mir die Aktivitäten anschauen, wenn es ein eigenes Profil angelegt hat? Frage ich es nach dem Profil und riskiere eine Änderung des Verhaltens – ein Zweitprofil?
Welche Filter konfiguriere ich bevor das Kind überhaupt ins Internet geht?

Noch schwieriger wird es wenn das Kind selbst aktiv wird. Wenn es Videos gestaltet und hochlädt. Ein Gebiet, das ich aktiv gar nicht kenne. Was filmt es? V.a. wen filmt es? Wie geht es dabei mit Privatsphäre um? Wenn es gar nichts filmt und selbst Videos bastelt: Welches Material nimmt es? Wie steht es um die Bildrechte? Wie um die Hintergrundmusik? Wie wahrscheinlich ist es, dass es gegen irgendwelche Urheberrechte verstösst? Es sind unendlich viele Gespräche zu führen. Gespräche über Themen, in denen ich vielleicht gar nicht kompetent bin. (Zum Beispiel Bildrechte: Ich mache es mir da nämlich ganz einfach und benutze immer nur eigene Bilder, weil es mir viel zu kompliziert ist war mich in die Thematik einzuarbeiten.)

Was ist besser? Wenn das Kind anonym unterwegs ist? Wenn es nicht namentlich unterwegs ist? Soll es etwas dürfen weil es andere dürfen? Wie verhindere ich, wenn ich mich entscheide, bestimmte Dinge nicht zu erlauben, dass das Kind sie nicht trotzdem tut?

Das Internet ist jetzt da und es geht auch nicht mehr weg und das weiß ich.
Aber gerade habe ich das Gefühl, dass man auch gut kündigen könnte, um ausreichend Zeit zu haben all die Details mit dem internetfähigen Kind zu besprechen. Doch: wer hütet so lange die anderen Kinder?

Lieblingstweets 03/13

 

 

 

Heimat

Gestern habe ich Neukölln Unlimited gesehen. Der Dokumentarfilm zeigt ein Jahr in Leben der drei Jugendlichen Lial, Hassan und Maradona, die in Neukölln aufgewachsen sind. Sie und ihre Familie stammen aus dem Libanon. Zum Zeitpunkt des Filmes sind sie bereits seit 16 Jahren in Deutschland. Deutschland ist ihre Heimat und trotzdem werden sie nur geduldet bzw. zwei der Geschwister haben eine auf die Dauer der Schule bzw. Ausbildung befristete Aufenthaltsgenehmigung. Der Film begleitet die drei und ihre Familie durch den Alltag in Neukölln zwischen Breakdance und Behörden und der Angst vor Abschiebung.

Mich hat der Film sehr bewegt. Wahrscheinlich habe ich zu dieser Thematik einen anderen Bezug weil (zumindest ein Teil) meiner Familie nicht aus Deutschland stammt. Unvorstellbar ist jedoch der Gedanke mit der Gewissheit leben zu müssen, dass jeden Tag die Polizei an der Tür klingeln kann und man einfach in das Land der Eltern abgeschoben werden könnte. 2004 passiert der Familie genau das.

Ich stelle es mir unfassbar grausam vor in ein Land abgeschoben zu werden, das einem fremd ist, das nicht die Heimat ist, dessen Sprache man womöglich nicht kann, alle Freunde – das ganze Leben zurück lassen zu müssen.

Von Herzen wünsche ich den Geschwistern, dass sie bald ihre Kartoffelparty feiern und für immer in Deutschland bleiben können.

***

Letztes Jahr wollte ich eigentlich eine Reihe von Interviews veröffentlichen. Allerdings scheiterte das Projekt aus verschiedenen Gründen obwohl ich bereits einige Gespräche geführt hatte. Eines meiner bewegendsten habe ich mit Handan Ceylan geführt. So wie der Film ist mir das Gespräch sehr lange nachgegangen und ich veröffentliche es jetzt hier im Blog, weil ich nicht möchte, dass es auf meiner Festplatte versauert.

Obwohl Handan und ich im Raum Forchheim groß geworden sind, kannten wir uns vor dem Interview nicht. Die Bezüge zu dieser Stadt gibt es, weil die Interviews ursprünglich in einer regionalen Zeitung veröffentlicht werden sollten. Sehr wahrscheinlich kann man Forchheim aber durch jede x-beliebige (Klein)Stadt in Deutschland ersetzen.

Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki Insan

Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen

HandanWir treffen uns an einem sonnigen Nachmittag im Herbst an der U-Bahnstation Schlesisches Tor in Kreuzberg. Während ich auf Handan Ceylan (34) warte, verstehe ich wieder was Multikulti bedeutet. Ich höre englisch, französisch, türkisch und italienisch sprechende Passanten, die darüber diskutieren, wo sie den Tag verbringen, der fast ein Tag im Spätsommer sein könnte, so warm ist es. Handan kommt mit dem Fahrrad. Wir wollen gemeinsam ins Café Gipfeltreffen direkt am Görlitzer Park gehen. Auf dem Weg frage ich sie, ob sie mit dem Comedian Bülent Ceylan verwandt ist. Seine Werbeplakate pflastern die Wände unseres Weges. Sie verneint. Die Namensgleichheit sei zufällig, was ungewöhnlich sei, denn der Nachname sei nicht besonders weit verbreitet in der Türkei – also kein Pendant zu dem deutschen Müller oder Meier.

Weil draußen nichts mehr frei ist, suchen wir uns im Café einen Platz. Es ist Handans Lieblingscafé. Ich kann das gut nachvollziehen. Es ist gemütlich eingerichtet. Alles etwas zerschrammelt, aber jedes Möbelstück scheint eine eigene Geschichte zu haben. Wir bestellen uns Milchkaffee und Törtchen aus der fünfstöckigen Kuchenvitrine.
Handan hat sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit. Sie spricht Deutsch und Türkisch fließend. Allerdings ist Türkisch ihre Muttersprache. Für sie bietet das Türkische viel mehr Möglichkeiten sich differenzierter auszudrücken. Türkisch erscheint ihr blumiger als das sachliche Deutsch. Geboren und aufgewachsen ist sie in Forchheim. Sie ist das Nesthäkchen der Familie, das jüngste von sechs Kindern. Die ersten fünf Jahre hat sie eine türkische Grundschule besucht. Das war damals so – es stand nie zur Debatte, ob türkische Kinder gemeinsam mit deutschen Kinder eine Klasse besuchen. Was sie erzählt, lässt mich an die 50er Jahre denken. Das wäre aber die Elterngeneration. Handan ist 1977 geboren. Obwohl sie hervorragende Noten hat, bekommt sie keine Empfehlung für das Gymnasium, wo sie aber unbedingt hin wollte. Man schickt sie auf die Hauptschule. Mit „man“ sind nicht ihre Eltern gemeint. Die haben ihre Wünsche und Ziele stets mitgetragen. Mit „man“ sind die Lehrer gemeint.
Sie macht schließlich ihren qualifizierenden Hauptschulabschluss und besteht weiterhin darauf aufs Gymnasium zu dürfen. Da ihr das verweigert wird, beschließt Handan in die Türkei zu gehen, damit sie dort ein deutsches Gymnasium besuchen kann. Ihre Eltern unterstützen ihre mutigen Pläne.
Sie ist 14 als sie ein Jahr lang auswandert. Übergangsweise darf sie bei Verwandten wohnen, den Rest des Schuljahres lebt sie in einem Schülerwohnheim.
Aufgrund ihres Ehrgeizes und ihres Notenspiegels erhält sie endlich die langersehnte Gymnasialempfehlung und kommt zur Oberstufe auf das Herder-Gymnasium. Da sie dort zusätzlich eine weitere Fremdsprache belegen müsste, empfiehlt der Direktor sie für das Ehrenbürg-Gymnasium. Das EGF bietet in Kooperation mit dem Hans-Sachs-Gymnasium in Nürnberg Türkisch als zweite Fremdsprache an.
Besonders herzlich nimmt der Direktor des Ehrenbürg-Gymnasiums sie nicht auf. Er macht ihr wenig Mut. Mit ihrem Lebenslauf würde sie das Abitur ziemlich sicher nicht schaffen – so seine Zukunftsprognose.
Seine Prognose war falsch. 1997 macht Handan ihr Abitur.
Im Anschluss studiert sie Jura in Bayreuth und Bonn. Sie sammelt Berufserfahrung unter anderem als Referendarin am Auswärtigen Amt, in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen im Büro des Parteivorsitzenden Cem Özdemir, als Praktikantin im Türkischen Parlament und bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit im Jemen.

Wir sprechen über den 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Wir sprechen darüber, dass Türken in Deutschland auch nach fünfzig Jahren noch kein allgemein akzeptierter Bestandteil der Gesellschaft sind, obwohl sie mit je nach Statistik beinahe zwei Millionen Menschen einen nicht unwesentlichen Bestandteil der deutschen Bevölkerung darstellen. In diese Zahlen rein gerechnet sind nicht mal die Türken in zweiter Generation, weil diese neben der türkischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und somit eigentlich ganz normale Deutsche sind. Handan sagt mir, dass sich viele unabhängig von Geburtsland und Staatsangehörigkeit einfach als Deutsch-Türken oder als Deutsche fühlen. Deswegen würde die Bezeichnung „der Türke“ der Lebensrealität dieser Menschen ohnehin nicht gerecht.
Wir reden darüber wie das nach all den Jahren sein kann und sie sagt mir, dass sie sich deswegen in Berlin so wohl fühlt. Hier ist die Durchmischung an manchen Orten so groß, dass man leicht ausblenden kann, dass das leider nicht repräsentativ für ganz Deutschland ist.
Beruflich setzt sie sich aber genau dafür ein: Für Gleichstellung und Gleichbehandlung.
Sie erzählt mir vom Ausländerrecht in Deutschland, welches unter anderem die Niederlassung und Erwerbstätigkeit für Menschen regelt, die nicht die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates besitzen. Das deutsche Ausländerrecht ist absurderweise Teil des Polizei- und Ordnungsrechts, welches die Gefahrenabwehr regelt und Ausländer so per se technisch gesehen als eine „Gefahr“ definiert.
Was nach Behördendeutsch klingt, bedeutet v.a. eines: Wenn Ausländer straffällig werden, werden sie nicht wie Deutsche behandelt. Neben der „üblichen“ Strafe, droht ihnen die Abschiebung und zwar unabhängig davon wie lange sie bereits in Deutschland sind, ob sie Kinder in Deutschland haben oder ob sie die vermeintliche Muttersprache sprechen und noch Menschen im Geburtsland haben, die sie kennen oder nicht.
Die Aufhängung des Ausländerrechts legt somit eine bedauerliche Grundlage zur Ausländerdiskriminierung. Denn Straftaten werden nicht nach Art und Schwere der Straftat sondern nach Herkunft des Straffälliggewordenen bemessen. Mit Vorurteilen haben Deutsche mit türkischen Wurzeln im Alltag oft zu kämpfen. „Junge Männer türkischer Abstammung haben es, was Vorurteile angeht, dabei noch schwerer als die Frauen“, sagt sie, „sie werden leichtfertig als aggressiv und kriminell abgestempelt. Die Frauen gelten wenigstens noch als Exoten…“

Handan ist eine sehr offene und zielstrebige Frau. Sie hat nie Menschen über ihren Lebenslauf bestimmen lassen. Wenn sie etwas erreichen will, nimmt sie die Initiative selbst in die Hand. In Berlin lebt sie seit 2006. Sie kann sich nicht vorstellen zurück nach Franken zu gehen. Wenigstens in Berlin gibt es Orte, wo es so ist, wie es überall in Deutschland sein sollte. Bunt, durchmischt, kulturell vielseitig, offen und tolerant. Für Handan ist Berlin die (leider) undeutscheste Stadt in Deutschland. Handan schaut mich nachdenklich an. Obwohl sie Berlin wirklich liebt, bleibt Forchheim ihre Heimat. „Am Ende,“ so sagt sie „bin ich doch eine Fränkin“.

Die echten Menschen und die im Internet

Der Weg in den Kindergarten führt an zwei Altenheimen vorbei. Oft begegnen uns deswegen Menschen jenseits der 80, die auf Rollatoren ihre Runden drehen. Kind 3.0 ist sehr gesprächig und ruft allen Menschen, die an uns vorbei gehen, ein sehr herzliches „Hallo“ zu. Die meisten freuen sich sehr und sind bei der anschließenden Konversation glücklicherweise sehr schwerhörig. Kind 3.0 ist sehr offen und so lautet seine Lieblingsfrage „Wieso siehst Du eigentlisch so gruselig aus?“ oder auch „Bist Du eine alte Hexe?“. Kind 3.0 und die Alten reden ein wenig miteinander und wenn wir dann weiter gehen, fragt Kind 3.0 gerne „Wer war das? Und warum redet der mit misch?“

Mir ist aufgefallen, dass die meisten älteren Menschen zu Beginn sehr traurig schauen und ihr Gesicht sich unfassbar aufhellt, wenn sie mit Kind 3.0 sprechen.

Oft sehe ich auch alte Menschen, die auf ihrem kleinen Balkon stehen und nach draußen schauen. Sie stehen da, unbeweglich und ich kann oft nicht genau ausmachen, was sie eigentlich anschauen. Ihre Haare sind verwuschelt und sie tragen Bademäntel, so als sei dieser Ausflug auf den Balkon, der einzige Ausflug des Tages. Auf dem Rückweg stehen sie immer noch da.

Ich überlege dann, wie das bei mir sein wird – so in 35 – 40 Jahren.

Ohne das Internet – für mich vor 1997 – habe ich mich oft sehr einsam gefühlt. Seit dem ich – wie einige meiner Bekannten das sagen – im Internet lebe, ist das nicht mehr so. Ich kann entscheiden, ob ich alleine sein oder Gesellschaft haben möchte. Selbst wenn ich zuhause bin und fernsehe zum Beispiel. Wenn das Programm zu öde ist, nehme ich mein Handy in die Hand und schaue, ob andere auf Twitter sich die Sendung anschauen, ich filtere das Hashtag und schon sitze ich mit vielen Menschen auf meinem Sofa.

Ich habe völlig unabhängig von Raum und v.a. auch von der Zeit „Menschen“ um mich. Ich bin schon immer eine Frühaufsteherin gewesen. Samstags war ich immer um acht knallwach. Bis ich gewagt habe, eine Freundin anzurufen sind schon mal drei Stunden vergangen. Heute stehe ich oft vor sechs auf. Als erstes klicke ich mich dann durch Mails, lese Blogs, schaue was auf Twitter und Facebook los ist und das Gefühl von Einsamkeit bleibt mir fern. Natürlich habe ich auch meine Familie, meinen Mann, die Kinder und ich weiß nicht genau wie es ganz ohne sie wäre, aber ich stelle mir das Alter mit Internet viel schöner vor als ohne.

Vor ein, zwei Generationen haben Freunde und Familie viel enger zusammen gewohnt. Ich denke, es war nicht unüblich sogar in der selben Stadt zu wohnen oder Freunde aus der Schule ein Leben lang zu kennen.

Meine Oma wohnt über 2.400 km weit weg entfernt. Meine Eltern 500, meine Schwester ebenfalls. Von den Schulfreunden kenne ich nur noch wenige. Bis auf zwei sind sie alle mehr als 300 Kilometer entfernt. V.a. mit denen, die ins Ausland gezogen sind, halte ich über Facebook Kontakt. Es ist ein lockerer Kontakt, aber ich freue mich, sie regelmäßig in der Timeline zu sehen.

Ich bin zudem sehr schlecht in aktiv Kontakt halten. Auch bin ich sehr schlecht in interessierte Fragen stellen. Ich kann mir nicht ausmalen, wie ich ohne das Internet leben würde. Vermutlich hätte ich mehr Zeit. Die Frage ist nur für was. Fürs Fingernägel lackieren? Für Flechtfrisuren? Würde ich mehr basteln mit den Kindern? Wäre ich aktiver in unserem Kiez? Ließen sich andere soziale Aktivitäten eigentlich mit meinem Alttag – dem Hin- und Hergehetze zwischen Arbeit, Kindergarten, Zuhause vereinen?

Wo werden meine Kinder sein, wenn ich alt bin? Wo die Freunde?

Ich hoffe jedenfalls, dass es bis dahin tolle Apps für alte Menschen gibt, die einfach zu bedienen sind, die ich auch noch mit Gicht und Arthritis benutzen kann. Die ich auch schwerhörig und fehlsichtig benutzen kann und die mir den Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden und den Menschen im Internet, die ich vielleicht gar nicht persönlich kenne und die mir trotzdem das Gefühl von Nähe und Gesellschaft geben, ermöglichen. Ich möchte lieber auf meinem Bett liegen, ein leichtes, riesenhaftes Gadget auf dem Schoß haben und mit knorrigen Fingern Symbole anklicken als frierend und alleine auf einem Balkon stehen und in die Ferne schauen, so wie die Menschen, die nur Kontakt zu „echten Menschen“ hatten und haben.

Lieblingskinderbücher – Die Auswahl von Kind 2.0

Percanta, die neulich im Fünf Bücher Blog war, hatte die tolle Idee ihren Sohn nach seinen fünf Lieblingsbüchern zu befragen. Der Herr Buddenbohm diese Anregung aufgegriffen und ich mache das ungefragt nach. Also habe ich auch eines der Kinder befragt.

Da aufgrund des Leistungsschutzrechts ohnehin nicht mehr auf  die Angebote von Presseverlagen verlinkt werden darf, ist es genau der richtige Tag, um klassische Stöckchen aufzugreifen – so wie damals in den frühen Zweitausendern. Ich werfe das Stöckchen also weiter zu JournelleHeiko, Pia, Fakeblog und Mama Arbeitet. Alle anderen mit sprechfähigen Kindern sind natürlich auch eingeladen.

Die Auswahl von Kind 2.0

5Kind 2.0 ist eigentlich der klassische Wiederholungsleser. Abend für Abend schleppt es die selben Conni Bücher an und möchte diese vorgelesen bekommen. Auf die Frage nach den Lieblingsbüchern antwortet es erstaunlicherweise nicht erwartungsgemäß: „Nur weil ich das immer hören will, müssen das nicht meine Lieblingsbücher sein. Die sind nur für besondere Anlässe.“

Mein großes Wimmel- und Wörterbuch, Band 5: Ritter und Burgen
„Das gefällt mir, weil man da drin was über das Mittelalter wissen kann. Meine zwei Lieblingsseiten sind die, wo man sieht wie das Schlafgemach des Burgherren ausgesehen hat und die, wo man sehen kann wie man mittelalterliche Filme nachmachen kann.
Es ist wichtig, dass es solche Bücher gibt. Sonst wüsste man gar nichts mehr über das Mittelalter, es ist schließlich ein Paar Jahre her. Komisch ist, dass die alles so bunt machen. Ich glaube, das war gar nicht so. Papa sagt immer, es hat da keine Kartoffeln gegeben, alle haben gestunken und sind an verfaulten Zähnen gestorben.„

Grimms Märchen. Vollständige Ausgabe
„Da sind viele Märchen drin, die ich noch gar nicht kenne. Geschichten lesen ist eins meiner Lieblingshobbys und da bietet sich so ein Buch an. Besonders gefällt mir, dass die Märchen immer gut ausgehen. Außer die, die für Erwachsene sind. Die gehen nicht gut aus. Erwachsene mögen das irgendwie lieber. Das verstehe ich nicht, aber wahrscheinlich kommt das, wenn ich älter bin. Das Buch hat mir meine Oma geschenkt. Sie hat einen sehr guten Geschmack, deswegen kann ich das empfehlen.“

Benny Blu – Edelsteine
„Ich interessiere mich für die verschiedenen Edelsteinsorten und darüber mehr zu erfahren finde ich schön. Ich kann mich dann immer noch entscheiden, ob ich Edelsteinsucherin werden will. Man kann da sehr reich werden – aber nur wenn man sich auskennt. So wie die afrikanischen Jungen, die vor 250 Jahren den großen Diamanten gefunden haben. Die dachten ja, das sei ein großer Stein. Wenn ich so einen Diamanten finden würde, wüsste ich jetzt gleich mit was ich es zu tun habe und würde ihn nicht einfach wegwerfen. Ich schätze aber, dass ich dann nach Kimberly ziehen müsste. Im Buch steht nichts von Edelsteinfunden in Berlin. Im Moment ist mir Kimberly noch zu weit weg. Außerdem ist das mit dem Big Hole bestimmt ganz schön gefährlich.“

Ritter Rost Musicalbuch, Band 11: Ritter Rost und die Zauberfee
„Hier gefällt mir die Fee besonders gut. Bei anderen Ritter Rost Büchern habe ich bislang noch keine Fee bemerkt. Ich finde das auch witzig, weil die Fee einschläft und wieder aufwacht und dann alles zurück zaubert. Darüber muss ich lachen.


Die Musik gefällt mir auch. Wobei ich Ritter Rost und die Hexe Verstexe von der Musik her besser gefällt. Da kann ich besser mitsingen. Ich mag auch Burgfräulein Bö weil sie stark ist und alles gerecht ist. Das kann man von Ritter Rost nicht sagen.“

Mumins lange Reise von Tove Jansson
„Das habe ich in Schweden kennen gelernt. Das ist eine sehr schöne Zuhörgeschichte. Das gibt es auch als Hörspiel und ich finde die Geschichte sehr spannend. Die Reise ist sehr beschwerlich, aber es lohnt sich weil sie am Ende den Mumins Papa finden.
Als ich noch ein kleines Kind war, fand ich die Schlange ein bisschen gruselig, aber jetzt kann ich das aushalten. Mir gefällt der Junge mit dem Feuerhaar. Vielleicht treffe ich ihn auch mal.“

Mama Sheldon

In der Schule war ich, was man klassisch eine Streberin bezeichnen würde. Neben meinen Klausuren der Oberstunde stand: „Sehr schön, allerdings haben wir ca. 20% der Themen noch gar nicht dran genommen. Gäbe es mehr als 15 Punkte, ich würde sie dir geben.“

Die guten Noten waren die eine Seite der Medaille. Die andere war meine Unbeliebtheit. Ein klassisches Henne-Ei-Problem. Ich konnte nie rausfinden, ob ich erst unbeliebt war und dann gute Noten bekam, weil ich z.B. las und lernte, statt mich mit den nicht vorhandenen Freundinnen zu treffen oder aber, ob ich erst gut in der Schule war und dann keine Freundinnen mehr hatte.

Sei es drum. Irgendwann zählte nur der Perfektionismus. Wenn ich schlechter als 14 Punkte war, musste ich die Tränen unterdrücken und wenn es MitschülerInnen gab, die besser waren als ich, hätte ich ihnen gerne die Augen ausgekratzt.

Die Krönung waren Lehrersätze wie: „Patricia hat das doch auch gewusst. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass wir das nicht durchgenommen haben.“ Da klatschte ich mir innerlich Applaus. Schon lange war es mir völlig egal wie unsympathisch ich wirken mochte. Ich war Sheldon bevor Sheldon erfunden war. Es zählte einfach das fehlerfreie Ergebnis.

Einmal im Fluss des Perfektionismus mitgeschwommen, gibt es kein Zurück mehr. Im Diplom-Zeugnis habe ich eine zwei. Leider gab es keinen Weg die Prüfung zu wiederholen. Auch keinen einklagbaren. So muss ich mit diesem Hohn (eine zwei!!!) leben. Wie ein Makel verunstaltet die zwei meine Bewerbungsunterlagen. Zitternd warte ich im Bewerbungsgespräch auf die Frage, was da eigentlich mit mir los gewesen sei. Eine echte Erklärung habe ich nicht. Ich habe einfach versagt.

So war mein Leben viele Jahre. Perfekt. Alles. Meine Arbeitsergebnisse, meine Wohnung, meine Einsamkeit, mein Singleleben – selbst ich war perfekt. Jeden Morgen frisch geduscht, gestylt, die Ohrringe passend zum Oberteil, die Bluse gebügelt, die Schuhe auf die Handtasche abgestimmt ALLES WAR WUNDERBAR.

Dann passierte etwas.

Vermutlich entführten mich Aliens.

Heute bin ich von Perfektionismus so weit weg wie ein Pinguin vom Nordpol. Ich selbst würde das vermutlich gar nicht merken. Ich merke es ausschließlich an den kleinen, traurigen Gesichtern meiner Kinder. Wenn ich sie z.B. vom Kindergarten abhole und mit ihnen zum Spielplatz gehe und sie dann ohne Schippchen, Trinken und Essen rumstehen. Manchmal auch frierend, weil ich vergessen habe, ihnen Mützen anzuziehen.

Sie blicken dann sehnsüchtig zu den anderen Müttern. Denen, die perfekt geschminkt, in gewaschenen Kleidern, mit Blumen im Haar ihren Kindern die frisch zusammengestellte Bento-Box kredenzen. Ihnen eine kleine Getränkeauswahl anbieten und den Korb mit den Sandsachen auspacken. Sie gehen dann mit ihren Kindern schaukeln. Dreißig – vierzig Minuten schubsen sie ihre Kinder unermüdlich an bevor sie zur Seilbahn wechseln und die Kinder eine weitere halbe Stunde anschieben.

Im Sommer haben sie Sonnencreme und Hüte dabei, sie haben immer Wechselsachen parat, Feuchttücher ohnehin, Handtücher wenn nötig. Im Winter Handschuhe und kleine Thermositzkissen. Sie haben immer Bargeld einstecken, um ein Eis zu kaufen, geschnittenes Obst für Zwischendurch und wenn ein Kind herzhaft niest, ein duftendes Taschentuch, um die Nase zu putzen.

Das schlimmste daran: Sie sind auch noch gutherzig. Wenn meine Kinder sehnsüchtig mit leicht tränengefüllten Augen in ihre Richtung schauen, bekommen sie immer etwas ab. Das ist im Grunde das allerallerschlimmste. Wenn dann am Abend noch eines meiner Kinder sagt: „Mama, Du hast noch viel Zeit zu leben und deswegen wirst du es bestimmt mal schaffen uns etwas zu trinken mitzubringen, da bin ich zuversichtlich“ und mir auf die hängenden Schultern klopft, da wünschte ich, ich hätte meine Lebensration Perfektionismus nicht bereits komplett verschleudert.