Zimmer des Grauens

Mein Sternzeichen zwingt mich mein Leben seit jeher zu dokumentieren. Es gab Zeiten, da kam ich aufgrund der Dokumentation kaum dem Leben hinterher. So habe ich z.B. alle 14 Wohnungen fotografiert, in denen ich gelebt habe. Wenn sich der Charakter in der Einrichtung wiederspiegelt, dann habe ich gelegentlich angst vor meiner Vergangenheit.

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Schickt mir Eure Jugendzimmer und ich erstelle bei den ersten drei Einsendungen eine kleine Charakterkunde.

Mein erstes Kindergartenfest

Kindergartenfest das geht so: Man nimmt den Garten des Kindergartens und macht daraus einen Essen- und Trinkenparcours. Zwischen drin stellt man einen Stand zur musikalischen Früherziehung auf. Für ein Kind, das gerne isst (ca. 1 auf 1.000) ein Spießrutenlauf.
Kind: Kann ich Würstchen haben?
Nuf: Nein
Kind: Kann ich Schokolade haben?
Nuf: Nein
Kind: Kann ich Eis haben?
Nuf: Nein
[…]
Nuf: Gibt es denn nichts anderes als Essen hier? Lass uns doch was zusammen spielen!
Kind: Kann ich was trinken?
Nuf: Hmpf. Na gut.
Wir kommen an einen Stand mit mehreren Gefäßen auf denen steht süß, sauer, bitter. Daneben stehen Plastikbecher, Fassungsvermögen 0,5 Liter.
Kind: Welche darf ich denn?
Nuf: Sauer.
Kind nimmt Plastikkübel, schüttet ihn fast voll und trinkt in großen Zügen aus. Anschließend die Kindergärtnerin: „Das is aber nich, wenn man Durst hat, nä? Das is nur zum pro-bieren! Das hier ist doch der Stand Geschmacksgrundrichtungen, nich?!“
Nuf: Was ist denn da drin?
Kindergärnternin: Zitronensaftkonzentrat.
Kind leckt sich die Lippen: Lecka!
Ich grüble, ob das Kind jetzt sterben wird und entscheide, das ganze muss a) verdünnt und b) neutralisiert werden. Wir halten Ausschau nach dem echten Trinkstand, der schnell gefunden ist. Vor uns stehen mehrere Eimer mit Flüssigkeiten in den Grundfarben des Regenbogens. Am Grund schwabbelt Zucker. Wie gesund! Gut dass hier auf Ernährung geachtet wird, denke ich, als das Kind bereits den 0,5 Liter Becher durch die Waldmeisterbrause gezogen hat und diese ebenfalls auf Ex wegkippt. Wenigstens wird es jetzt nicht sterben.
Wir gehen weiter. Kind greift unvermittelt meine Hand, reißt blinzelnd die Augen auf und sagt liebevoll: Alles Gute zum Muttertag!
Nuf: Heute ist nicht Muttertag und Deine Mama bin ich doch auch nicht.
Kind: Egal. Alles Gute! Ichhabdichebenliebkannicheinstückkuchenhaben?
Nuf: Nein.
Das eben noch strahlende Kindergesicht versteinert sich und verzerrt sich zu einer Grimasse. Das Kind heult auf, die Tränen spritzen regelrecht aus den Augen.
(Kennt jemand die Simpsonsfolge mit den Androiden, die weinen lernen und deren Köpfe dann leider explodieren, weil das Wasser Kurzschlüsse verursacht? Genauso!)
Das Kind reißt sich von der Hand und will weglaufen. Ich greife nach dem Arm. Es brüllt, kreischt und heult, schüttelt sich, verliert das Gleichgewicht, stürzt zu Boden. Entgeistert blicke ich das Kind an, gehe in die Hocke, lächle und strecke meine Hand aus.
Das Kind rollt sich auf den Rücken und kriecht wie ein hysterischer Krebs vor mir weg. Im rückwärts robben schreit es hysterisch: „Nein, Naaaain, naaaaaaAAAAAAAAAAiiiiin, lass mich!“
Die Szene erinnert mich an irgendeinen Horrorfilm. Das Opfer ist nach verzweifelter Flucht bereits umgefallen und nun versucht es sich rückwärts kriechend vor dem nahenden Monster zu retten. Das Monster ist jedoch gnadenlos und verschlingt das unschuldige Opfer.
Ich lache und blicke auf. Mich starren ca. sieben total entsetzte Elternpaare an: „Was machen sie denn da mit dem ARMEN Kind?“
Ich fühle mich schlecht, bin kurz davor an den Stand zu laufen und über den Lärm hinweg zu schreien: „Hier haben sie einen hundert Euroschein, geben Sie dem Kind was es will! Packen sie die Kuchen ein, wir nehmen die eine Hälfte mit nach Hause, die andere Hälfte soll es von nun an in alle Ewigkeit zum Frühstückmittagabendessen geben!“
Ich bin kalt und herzlos wie die Schneekönigin. Wenn das Kind als Erwachsener gaga ist, werde ich mich beim Psychoanalytiker persönlich entschuldigen gehen.

Schreiben Sie doch mal was mit Prekarisierung

Prekarisierung ist entgegen meiner Annahme ein eher soziologisch geprägter Begriff. Allerdings finde ich den Begriff sehr geeignet ihn für ein psychologisches Phänomen zu benutzen, welches ich zwar zunehmend beobachten kann, jedoch bislang nicht benennen konnte.
Gemeint ist das seltsame Phänomen, dass Menschen trotz Wohlstandes und Sicherheit immer ängstlicher werden und sich immer mehr in den privaten Bereich zurückziehen. (Vielleicht gab es eine ähnliche Bewegung zur Weimarer Republik?)
Gemeint ist folgendes. Ein Großteil der Akademiker in Deutschland haben weder wirkliche finanzielle Not erfahren müssen, noch waren sie bislang auf Sozialhilfe und ähnliches angewiesen. Tatsächlich gibt es in der Mittelschicht viele kinderlose Doppelverdienerhaushalte.
Zusätzlich sichern diese Menschen sich mit einigem Eifer alles ab, was geht: Berufsunfähigkeit, Pflegezusatz, private Rentenvorsorge, Haftpflicht, Hausrat etc.
Dennoch ist es nie sicher genug. Nie sicher genug für Kinder. Nie sicher genug für größere Investitionen. Nie sicher genug für die Zukunft.
Man begibt sich allzu gerne in im Grunde unerträgliche Arbeitssituationen. In denen man sich beispielsweise irgendwann erfolgreich eingeredet hat, dass es völlig normal ist, täglich mehr als 10 Stunden zu arbeiten, am Wochenende ins Büro zu gehen, mehrere Tausend Kilometer pro Woche zwischen den einzelnen Einsatzorten zurückzulegen, jahrelang keinen Urlaub am Stück zu nehmen, den Wohnort zu wechseln etc.
Dabei ist es meist nicht mal so, dass man im Gegenzug für solche „Opfer“ ein besonders hohes Gehalt oder eine wirkliche Arbeitsplatzsicherheit bekommt.
Die wenigsten, die ich kenne, haben beispielsweise unbefristete Verträge mit dreimonatigem Kündigungsschutz. Die meisten haben befristete Verträge mit ein bis zwei Wochen Kündigungsfrist. Wenn überhaupt! Gerade in bestimmten Berufskreisen ist es beliebt Leute zu einem Hungerlohn als Praktikanten oder als „Freelancer“ mit Niedriggehalt ohne Kranken- und Rentenversicherung für 40 Stunden pro Woche einzustellen.
Doch selbst wenn man einen unbefristeten Vertrag hat, Sicherheit gibt das im Zeitalter des Stellenabbaus nicht. Berufseinsteiger und Kinderlose fallen schnell Sozialplänen zum Opfer.
Die meisten Konzerne, die sich Preise für Familienfreundlichkeit verleihen, sind in der Regel nicht wirklich familienfreundlich. Teilzeit ist nur unter großem Druck möglich. Reduzierte Arbeitszeiten (70% Stellen u.ä.) bedeuten weniger Geld bei 100% Arbeitszeit – sonst nichts.
Vom Umgang mit potentiell sich im gebärfähigen Alter befindlichen Frauen ganz zu schweigen.
Ich könnte noch Romane darüber schreiben. Was ich aber sagen will ist folgendes: Ist es nicht seltsam, wie unsicher wir uns fühlen? Und das obwohl die meisten keine Nöte erleiden. Man gibt sich im Namen des Absicherns mit so manch widrigem Umstand ab.
Man kümmert sich um nichts, was einen nicht direkt betrifft und ergreift für nichts Partei, zudem neigt man zum seltsamen Rückzug ins Private. Dort beklagt man sein Schicksal, die mangelnde Lebensfreude und v.a. die düstere Zukunft.
Mit steigendem Druck wird man immer lethargischer und abgestumpfter und ganz am Ende schaut man auf seinen Lebenslauf zurück und fragt sich, warum habe ich das eigentlich so lange ausgehalten?
Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass Menschen lieber das bekannte Negative behalten als das Risiko einzugehen an ihrer Situation etwas zu ändern. Es scheint wichtiger zu sein, einen stabilen Erwartungshorizont zu bilden, bei dem alles genauso eintritt, wie man es vorhergesehen hat, als einfach mal einen Schritt ins Unbekannte zu wagen.