Endlose Spielenachmittage

Es ist so. Kind 2.0 war irgendwann doch etwas genervt weil ich immerzu in mein Telefon schaue. Es ginge dabei ja auch nicht nur um die ständige Ablenkung, es sei auch besorgt, weil ich wirkte beinahe süchtig und Sucht, das sei eine schlechte Sache, das wüsste schließlich jede/r. Als ich dennoch nicht hören wollte, erarbeitete Kind 2.0 einen Kompromiss. Ich darf alle Tage ins Handy schauen – nur Mittwoch Nachmittag nicht. Da sei ab jetzt ein echter Spielenachmittag. Echt heißt in dem Fall, dass die Kinder nicht nur jedes für sich oder miteinander spielen, sondern dass ich mit den Kindern spielen muss. Mit der Auslegung des Wortes spielen sei Kind 2.0 jedoch flexibel. Wir könnten auch am Computer spielen, fernsehen (diabolisches Grinsen während es diese beiden Aktivitäten vorschlug), basteln, kochen oder Gesellschaftsspiele spielen.

Was es nicht gesagt hat, wir müssen im Hintergrund immer Radio Teddy hören. Schlimme Sache und als Strafe für mein Handyverhalten wirklich ausreichend.

Die ersten Tage bastelten wir, dann kochten wir, dann buken wir, dann puzzelten wir, dann machten wir Knickbilder, dann spielten wir Karten und gestern spielten wir Monopoly.

Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich als Kind Monopoly sehr toll fand. Meine Eltern haben gefühlt zehn Mal in meiner gesamten Kindheit mit mir gespielt. Davon drei Mal Monopoly, vier Mal Spiel des Wissens und den Rest so ein Spiel mit kleinen Autos, in die man Stäbchen reinsteckte je nachdem wie viel EhepartnerInnen und Kinder man während des Spiels anhäufte.

Was das Monopolyspielen angeht, kann ich mich jedoch nicht erinnern, WAS mir daran so gefiel. Ich glaube, ich habe nicht einmal gewonnen.

Im Hinterkopf die Begeisterung meiner Kindheit, willigte ich ein und wir spielten los. Kind 3.0 wurde als hauptamtlicher Würfler für mich eingestellt. In Runde 5 musste das eifrige Kind ausgeschlossen werden, weil es mit großem Ehrgeiz und auch Treffsicherheit ständig alle Häuschen vom Feld würfelte. Das alleine wäre noch ok gewesen. Jedoch dauerte die Zielphase sehr, sehr lange. Kind 3.0 nahm dabei den Würfel in die Hand, kniff die Augen zusammen, suchte sich eine Ansammlung Häuser am Spielfeld und schüttelte dann den Würfel. Erst langsam und dann immer schneller. Währenddessen visierte es das Ziel an, schob die Zunge zwischen die Lippen und warf erst nach endlosen Minuten des Zielens die Würfel mit maximalem Schwung auf das Feld.

Hätte ich gewusst wie langweilig das Spiel ohne Kind 3.0 ist, ich hätte es nicht weg geschickt.

Wir spielten eine ereignislose Stunde und als ich dann wirklich nicht mehr konnte (Ich habe versucht das Spiel als Demutsübung zu sehen, so wie das geduldige Stehen an autolosen, roten Verkehrsampeln, WIRKLICH), bat ich um Beendung. Nein, das Spiel ist erst beendet, wenn ein/e Spieler/in kein Geld mehr hat.
Der Haufen Geld vor mir wollte aber einfach nicht weniger werden. Spätestens wenn ich über Los oder versehentlich auf das Feld Wundertüte (wir spielen Kindermonopoly) kam, war ich wieder solvent.

Nach 1,5 Stunden begann ich mein Guthaben heimlich in die Kasse zurück zu stecken. Erst die großen Scheine und dann nach und nach die kleinen Scheine. Ich musste zwischendurch auf Toilette und als ich wieder kam, waren meine Häuschen, die ich bislang noch nicht auf Felder stellen konnte, plötzlich verschwunden bzw. sie standen offensichtlich irgendwo auf dem Spielfeld. Meine Kassen klingelten endlos.

Dann neigte sich das Geld von Kind 1.0 dem Ende zu, was Kind 2.0 gleich bemerkte: Ich werde dein Unterstützer! Hier hast du ein Paar Scheine, gib mir einfach ein bisschen was zurück wenn Du wieder Einnahmen hast.

Ich war entsetzt. Das, das geht nicht! Das erlauben die Regeln nicht!, protestierte ich.

Man soll doch teilen? Beide Kinder schauten mich fragend an. Bei Geld hört das wohl auf? Was ist mit den Bedürftigen, hm? 

Aus Gründen der Erziehung zum moralisch Guten blieb mir nur, die Regelanpassungen zu akzeptieren. Das Spiel ging endlos. Es war durch nichts abzubrechen. Habt ihr jetzt nicht mächtig Hunger? (Es war 19 Uhr)

– Nö!
– Vielleicht ein bisschen fernsehen?
– Nein, gerade macht es doch so Spaß.
– Süßigkeiten?
– Ne, danke.
– Tropical Island?
– Ist doch zu spät jetzt, Mama.
– Disneyland Paris?
 Mama! Jetzt spiel, Du bist dran!

Und wenn sie nicht fertig geworden sind, dann spielen sie noch heute.

 

P.S. Wir spielen Kinder-Monopoly und zwar streng nach den vorher vorgelesenen Spielregeln. Die scheinen sich von den Erwachsenen-Monopoly Regeln zu unterscheiden und die scheinen nach Verstreichen der Kindheit nicht mehr gelesen zu werden. Anstatt dessen spielt man nach Gedächtnis. Die Erinnerungen scheinen den Kinder-Monopoly Regeln zu entsprechen und zu einem endlosen Spiel zu führen. Spielt man nach Anleitung, scheint Monopoly irgendwann aufzuhören und „Spass“ zu machen.

Ich ziehe keine Socke an! Nein! Nein, meine Socke ziehe ich nicht an!

An Erziehung glaube ich nicht. Die Kinder werden so geboren wie sie sind und dann wachsen sie einfach. Egal wie man sich abmüht und was man für tolle Ratgeber liest.

Kind 3.0 beispielsweise schreit gerne. Wenn man es genau nimmt, hat es schon geschrieen als der Kopf gerade mal geboren war. Kopf raus und RÄÄÄBÄÄÄHHHHHH.

Zu Beginn war ich beunruhigt. Was fehlt dem Kind bloß? Man muss dazu sagen Kind 2.0 , das hat eigentlich kaum geschrieen. Vielleicht mal weil ich versehentlich vergessen habe es zu füttern, aber wenn mir dann einfiel was der Grund des Unbehagens sein könnte, dann schlief es einfach wieder ein.

Jedenfalls Kind 3.0 schrie und sah dabei nicht mal unzufrieden aus. Irgendwann schwante mir, dass das Kind tatsächlich nicht aus Unbehagen schrie. Es schrie, weil es schreien gut findet. Vier Jahre später sehe ich meine Hypothese bestätigt und mache mir keine Sorgen mehr.

Ich würde schätzen, im Schnitt schreit Kind 3.0 drei bis vier Stunden über den Tag verteilt. Gründe gibt es sehr viele. Das fängt an beim Aufstehen. „ISCH WILL NISCH AUFSTEHEN!!!“, geht weiter beim Frühstück „ISCH WOLLTE DIE STINKEWURST NISCH. DIE IS FAUL!!!“, erstreckt sich über das Zähneputzen „ISCH WILL NISCH! KARIES UND BAKISCHIUS SIND BAKTERIEN, DIE KANN ISCH MIT PUTZEN NISCH TÖTEN!“, geht weiter beim Anziehen „NEIN! ISCH ZIEHE MISCH NISCH AN, ISCH BIN ZU KLEIN DAFÜR!“.

Es ist nicht so, dass das Kind keine Argumente hätte. Als ich z.B. erläuterte, es sei jetzt kurz vor der Vorschule doch mal Zeit, dass es sich selbst anziehe, schaute es mich entgeistert an und sagte: „Ich bin dafür viel zu klein. Ich muss noch so viel lernen. Jetzt lerne ich erst mal ein- und ausatmen!!!“

Ich gestehe, gerade das morgendliche Anziehritual treibt mich zur Zeit in den Wahnsinn. Ich lüge nicht, wenn ich behaupte, dass das Anziehen morgens rund 1,5 Stunden in Anspruch nimmt. Dabei sind die Anforderungen nicht mal besonders hoch. Es geht ja nicht ums Schuhe binden oder Krawatten knoten. Es geht um Socken. Ab 6.00 Uhr knie ich flehend vorm Kind und fordere es auf die Socken anzuziehen. Wenn bei den anderen Kindern irgendein Trick irgendwann mal geholfen hat, bei Kind 3.0 hilft nichts. Kein „Ich wette, ich bin schneller als Duhuuu“. Da schaut mich Kind 3.0 nur gelangweilt an und stellt fest: „Ja, Mama. Du bist ja auch Erwachsene.“ Damit hat sich das dann auch erledigt.

In meiner Verzweiflung versuche ich es auch schon mal mit Konsequenzen aufzeigen. „Wenn du dich nicht anziehst, nehme ich dich im Schlafanzug mit in die Kita!“ Auch das perlt an Kind 3.0 ab. „Isch finde meinen Schlafanzug schick.“

Ich gestehe, ich habe sogar schon sinnlos gedroht „Wenn Du Dich nicht anziehst, dann dann dann gibt es keine Süßigkeiten!“ „Muss isch dann auch keine Zähne putzen, weil dann hab isch ja kein Zucker gegessen?“ fragt es dann interessiert.

An manchen Morgen möchte ich mich am Boden wälzen. Dieses Kind! Es ist nicht zu knacken. Wenn es dann meine Verzweiflung spürt, legt es sein Patschehändchen mitfühlend auf meine Schulter und sagt: „Wenn Du misch abends nisch ausziehst, musst Du misch morgens nisch anziehen, weisst Du?“.

Ich bin also der Gnade des Kindes ausgesetzt. Es macht entweder mit oder nicht. Und da es keinen Sinn darin sieht, sich selbst anzuziehen, zieht es sich eben nicht selbst an. Ich resigniere dann gelegentlich und fange an es wieder anzuziehen obwohl mir Selbständigkeit so wichtig ist.

Drei Tage später hat sich das Kind rekalibriert und schreit: „ISCH KANN DAS ALLEINE!!!“ und schlägt mir die Hose aus der Hand. So ist das mit diesem Kind. Und es ist immer so gewesen. Und es wird nie anders sein. Und ich, ich bin ein stiller, tiefer See. Ommmmmm!

Der große Teigrausch

Kind 3.0 ist noch im Kindergarten und trotzdem hatte es neulich seinen ersten Rausch.

Im Auftrag von Kind 2.0 haben wir Kuchen gebacken. Nicht so was gesundes, lautete die Anweisung. Also haben wir ein Kuchenrezept mit ordentlich Zucker rausgesucht. Kind 2.0 ist ziemlich streng und ich hatte keine Lust ausgeschimpft zu werden.

Kind 3.0 hat beim Backen fleißig unterstützt. Butter zermatscht. Reichlich Zucker eingearbeitet. Mehl aus zwei Meter Entfernung dazu. Kleine Kinder machen das alle auf die selbe Art und Weise. Auf den Stuhl stellen und dann mit ausgestrecktem Arm von ganz oben ein Kilo Mehl in einem Schwall in die Schüssel schütten. Dann die Eier, die es teilweise sogar aufgeschlagen hat.

Schon vom ersten Arbeitsschritt an fragte Kind 3.0, ob es nicht probieren könne. Kind 3.0 kennt da nichts. Es leckt auch gerne Butter einfach so von den Fingern ab. Als Mutter, die Wert auf Erziehung legt, habe ich das Ablecken allerdings erst erlaubt, als der Teig fertig angerührt und in die Kuchenform gefüllt wurde. Erst dann durfte Kind 3.0 die Teigreste ablecken.

Als die Erlaubnis einmal erteilt war, leckte und leckte es, als ginge es um sein Leben. Erst die Rührhaken, dann die Schüssel und ganz am Ende sogar die Arbeitsplatte auf die einige Teigreste getropft waren.

Ich verließ die Küche kurz um Hausaufgaben mit dem größeren Kind zu machen und war doch sehr erstaunt als ich in den blitzblank geschleckten Raum zurück kam. Im Grunde war es wirklich nicht mehr nötig sauber zu machen. Ich erwischte mich beim Betrachten der perfekt abgeleckten Küche bei dem Gedanken zukünftig benutzte Kochtöpfe (die ich besonders ungern von Hand spüle) und das gesamte Geschirr mit Teigresten zu beschmieren und die Spülmaschine abzuschaffen. Das lästige Ein- und Ausräumen wäre unnötig. Man könnte alles stehen lassen und nachdem Kind 3.0  wieder alles sauber geleckt hätte, erneut benutzen.

Kind 3.0 war nach der Teigvernichtungsaktion zunächst etwas zittrig. Es tanzte und sang laut durch die Wohnung, drehte sich wie ein Brummkreisel, sprang ein Paar Mal vom Hochbett und verkündete dann lauthals Wurstbrothunger.

Ich schmierte für die ganze Familie einige Stullen und wir machten Abendbrot. Kind 3.0 biss genau einmal vom Brot ab und sank dann erschöpft auf den Teller. Man könnte fast behaupten, es klappte regelrecht zusammen und stöhnte: „Isch kann nisch mehr“.

„Isch glaub, isch muss misch breschen“. Es röchelte schwach und schleppte sich dann ins Bett. Wenige Sekunden später war es eingeschlafen. Es schlief bis zum nächsten Morgen um 7 Uhr.

Als es gut gelaunt am Frühstückstisch erschien und ich darauf hinwies, dass es jetzt gerne ein Stück Kuchen nehmen könne, winkte es nur müde ab: „Kein Kuchen für misch, Mama.“

Kauf Dir nie ein ebenerdiges Einfamilienhaus

Alles hat einen Preis. Wenn man zum Beispiel genug Geld hat mitten in Berlin in einer der durchgentrifizierten Einfamilienhausgegenden zu wohnen, dann hat man den Preis an Halloween zu zahlen. Denn dann wird man heimgesucht von wilden Horden süßigkeitsuchender Kinder.

Alles hat einen Preis. Wenn man zum Beispiel genug Geld hat mitten in Berlin in einer der durchgentrifizierten Einfamilienhausgegenden zu wohnen, dann hat man den Preis an Halloween zu zahlen. Denn dann wird man heimgesucht von wilden Horden süßigkeitsuchender Kinder.

Ich würde schätzen, zwischen 16 und 20 Uhr wird durchschnittlich fünfzig mal an einem Haus geklingelt. Die Straße ist voll von verkleideten Kindern. Die Gespenster, Mumien und Hexen drängeln sich genervt aneinander vorbei. Kinderstau und teilweise ist es nicht möglich die Tür überhaupt zwischen den klingelnden Gruselgruppen zu schließen. Sie bleibt offen und die BewohnerInnen verteilen apathisch Bonbons und Lutscher.

Die Art wie man sich diesem Schicksal ergibt – oder aber auch nicht – ist unterschiedlich. Die Halloweenhasser parken ihr Auto nicht vor der Garage sondern quer vor der Eingangstüre. So eng, dass niemand vor die Haustür treten kann. Damit die Klingel nicht erreichbar ist, wird der Seitenspiegel des Autos eingeklappt. Ein Parkmeisterwerk! Ich bereue jetzt noch, dass ich das nicht fotografiert habe.

Manche begnügen sich mit Schildern auf denen böse schauende Smileys verkünden: Hier kein Halloween. Fenster verdunkeln und sich in den eigenen Keller zurück zu ziehen bis alles vorbei ist, ist auch eine beliebte Handlungsalternative.

Der sanfte Widerstand gegen Halloween sieht vor, dass statt der gottlosen Süßigkeiten Äpfel, Nüsse und Tofubratlinge an die Kinder ausgegeben werden. Manche halten auch Vorträge über den Reformationstag. Das hat v.a. die älteren Kinder in unserer Gruppe gegruselt.

Die gutherzigen AnwohnerInnen, die womöglich sogar freiwillige HalloweenliebhaberInnen sind, die verkleiden sich und schmücken das Haus. Leuchtende Kürbisse verheißen aus der Ferne einen warmen Empfang. Manche Erwachsene öffnen als Hexen die Tür und verteilen schrill lachend Leckereien in die Sammeltüten der Kinder. Highlight der Nachbarschaft war ein Skelett, das freundlich ein Paar Schokoriegel verteilte, während sich leise schweigend der Gevatter Tod von hinten dazu gesellte.

Der Tod hätte ECHT voll doof geguckt, berichtet eines der 1,30m großen Gespenster empört.

Als es für die Kinder Zeit ist ins Bett zu gehen, sind auch die SüßigkeitenverteilerInnen müde und erschöpft. Einige werfen die Bonbons vom ersten Stock aus dem geöffneten Fenster schlapp auf die Straße.

In der Ferne ruft jemand Hellau.

Mein Gruselhighlight war die Geisterbahn für Kindergartenkinder. In die wollte Kind 3.0 unbedingt rein. Ein maximal ein Meter hohes Deckenlabyrinth durch das man sich schlängeln muss. Stockfinster ist es dort. Die muffigen Raumteiler schmiegen sich von rechts und links an meinen Körper. Nach drei Metern hat das Kind so Angst, dass ich es tragen soll. Ich muss auf Knien rutschen, weil die Decke so niedrig ist. In meinem Alter schmerzen die Knie da sehr. Was für eine Freude zusätzliche 15 kg auf den Arm zu nehmen. Während ich mich also quäle und blind durch das Schwarz taste, greifen plötzlich Hände an meine Beine (also Knie eigentlich), an meine Arme und berühren meine Haare. Ich habe beinahe laut geschrien, so furchteinflößend fand ich das. Es genügt mir schon im normalen Gespräch, wenn mich Menschen jovial anfassen – einfach so – mitten im Satz – und mich dabei anlächeln. Schauderlich! Und plötzlich ÜBERALL diese Hände, die ich nicht mal kenne. Sie greifen nach meiner Seele – ahhhh!

Mit laut schlagendem Herzen und geschundenen Knien gelange ich wieder an die frische Luft. Das Kind, die ganze Zeit auf meinem Arm, das Gesicht meinem Körper zugewandt, verkündet: „Da geh isch nisch mehr hin. Das is zu gruselisch.“ Ich pflichte ihm bei und wir lassen den Abend bei einer Kürbissuppe ausklingen.

Bitte beachten Sie diese Regel

Mein Vater findet nicht, dass ich streng erzogen wurde. Man muss ja nicht immer einer Meinung mit den Eltern sein. Jedenfalls in Bayern aufgewachsen, durch die gängigen Schulmodelle gelaufen, war ich vor meiner Zeit in Berlin sehr folgsam und obrigkeitsgläubig. Langjährige Freunde meiner Eltern wurden jahrzehntelang gesiezt. Verkehrsregeln aller Art befolgt. Ich stand mal 20 min mit dem Fahrrad um 3 Uhr Nachts in einer menschenleeren Gegend an einer roten Ampel. Den Müll habe ich so vorschriftsmäßig getrennt, dass ich einzelne Packungen in ihre Grundmüllarten zerkleinert habe.
Allen Obrigkeiten wurde unbedingt Folge geleistet.
Dann kam ich nach Berlin.
Meine neuen Freundinnen waren mittelmäßig belustigt über meine Folgsamkeit und alles wurde mit einem Warum sollte man das denn so machen? hinterfragt. Den ganzen Tag musste ich also nachdenken. Warum leise sein? Warum ordentlich in der Schlange anstellen? Warum erst Bier und dann Wein?
Ich musste entdecken, dass es in 80% der Fälle gar keine echten Argumente gab (oder zumindest, dass sich kaum einer an die ursprüngliche Argumentation erinnerte).
Zu allererst trennte ich mich von den „weil man das eben so macht/nicht macht“-Situationen. Am Spielplatz ließ ich mich kopfüber vom Klettergerüst hängen OBWOHL ich schon erwachsen war. Dann brach ich die kleinen Regeln. Ich setzte mich beispielsweise todesmutig auf einen freien Sitz im leeren Kino – obwohl es nicht der Platz war, der auf meiner Eintrittskarte stand. Dann bog ich mir die „echten“ Regeln bei Bedarf zurecht. Ich fuhr ohne Licht Fahrrad wenn es bei einem Besuch später geworden war, als eigentlich geplant oder aß schon beim Einkaufen das halbe Brötchen, welches ich erst an der Kasse zahlte.
So ging das immer weiter.
Heute habe ich große Probleme überhaupt irgendeine Regel zu befolgen wenn sie mir nicht sinnvoll erscheint.
Neulich z.B. gab es ein Sportfest bei den Kindern. Die Halle war riesengroß, die Aktivität fand in einem großen Kreis statt und gut die Hälfte der Halle war frei. Dennoch wollten die Veranstalter dass die Eltern auf die Zuschauerränge gingen.
Es fiel mir wirklich schwer, diese Vorgabe zu befolgen. Ich wollte unten sein, weil man von hier besser zuschauen und bessere Bilder machen konnte. Das jüngste Kind hätte sich in den engen Reihen nicht mit stillsitzen quälen müssen und überhaupt!
Brav wechselte ich in den Rang.
Situationen wie diese erlebe ich ungefähr zehn Mal am Tag und in den allermeisten Fällen füge ich mich.
Manchmal aber ist es unglaublich schwer. Zum Beispiel dann, wenn meine Kinder sich in einer ähnlichen Situation befinden und jemand anderes etwas von ihnen möchte, das ich für schwachsinnig halte.
Leider halte ich fast alles im Schul- und/oder Hortkontext für äh sagen wir fragwürdig.
Die Essensregeln zum Beispiel. Jedes Kind muss eine ganze Portion mit allen Essenselementen nehmen. Auch wenn das Kind weiß, dass es beispielsweise keinen Fisch mag. Dann muss das Kind ein bißchen probieren und darf dann sagen: Das schmeckt mir nicht. Wenn die Erzieherin das registriert hat, darf das Kind das Essen wegwerfen.
Beim Essen wird nicht gesprochen. Die Hand, die nicht isst, hat auf dem Tisch zu liegen.
Mir fallen aus den unterschiedlichen Schulen noch viele Beispiele ein.
Das mögen Beipsiele sein, wie beschrieben, bei denen ich denke, dass einige sagen werden: Das ist nicht zeitgemäß oder wenigstens Das ist unnötige Verschwendung von wertvollem Essen.
Aber in mir hegt sich auch der Widerstand gegen Themen wie Hausaufgaben. Warum sollte es die überhaupt geben die ersten Jahre. Die Kinder haben fast täglich 6 Stunden Unterricht. Reicht das nicht? Ich habe das Gefühl, dass die Hausaufgaben oft ein Stück Unterrichtsversäumnis der LehrerInnen aufholen sollen.
So berichten meine Kinder mir täglich Dinge, mit denen sie nicht gut zurecht kommen oder die sie unter Druck setzen und ich bin dann in der Zwickmühle. Meinen Kindern gestehen: Ich finde das auch! Du hast völlig Recht! oder schweigend zuhören und einfach nur Beistand geben (Ich verstehe, dass Dir das nicht gefällt).
Meine Lehrer konnten mir hervorragend mit WENN DU XY NICHT MACHST, DANN WERDE ICH DAS DEINEN ELTEN SAGEN drohen.
Ich kenne aber auch (erwachsene) Kinder, die gegen solche Drohungen immun waren, weil sie wussten, dass in so einem Fall der Lehrer am Ende eine lange Diskussion mit den Eltern über sich ergehen lassen musste, die darin endete, dass die Eltern als Hippies oder Laissez Faire Eltern kategorisiert wurden und man sich zwar weiterhin kopfschüttelnd über das Kind ärgerte, aber im Grunde machtlos war.
Im Moment versuche ich einen Mittelweg zu gehen und kommentiere vieles, das ich im Grunde für falsch oder übertrieben halte nicht.
Aber ich merke, wie es immer schwieriger für mich wird.
Und wenn ich mir meine Freunde anschaue, deren Eltern kaum Regeln befolgt haben und das mit mir vergleiche, dann muss ich feststellen, dass sich deren Selbstbewusstsein weitaus besser als meins entwickelt hat. Außerdem ist ihr Verhältnis zu den Eltern deutlich wärmer. Tatsächlich fügen sie sich aber nicht so leicht in fest vorgegebene Strukturen. In einem hierachrischcen Konzern zu arbeiten, wäre für sie undenkbar.
Infwiefern meine Beobachtungen und Rückschlüsse in irgendeiner Form representativ sind, ist natürlich fraglich.
Was mich angeht, ich fühle mich ganz wohl damit, dass ich in der Zwischenzeit die Fähigkeit besitze, um 3 Uhr nachts über eine rote Ampel zu gehen, wenn weit und breit kein Auto kommt.

Die Schulbrotchroniken

Ich schaue auf viele Jahre Erfahrung des Schulbrotschmierens zurück und doch – ich habe die Regeln des Verzehrs oder Verweigerns immer noch nicht erfasst. Am ersten Schultag packte ich zwei Stullen mit Salami in die Brotdose. Beide waren am Nachmittag aufgegessen. Also bekam das Kind am zweiten Tag ebenfalls zwei Salamibrote mit. Als ich am Nachmittag in die Brotdose schaute, hatte das Kind nur einmal abgebissen. Eine Rückfrage ergab, es hätte nicht geschmeckt – was für mich aufgrund der identischen Zubereitung im Vergleich zum Vortrag relativ unlogisch erschien. Was es denn in die Brotdose hinein haben wolle? Serenity-Piper, die neue Mitschülerin, die hätte Sushi bekommen. Eine kleine Variation freilich nur, aber das könnte ich doch auch mal machen? Das könne nicht sein! Sushi müsse gekühlt sein, das würde doch schlecht werden, hatte ich einzuwenden. Das würde wohl stimmen, aber die Brotdose von Serenity-Piper besäße eine Kühlautomatik. Batteriebetrieben.

Da wir eine solche Dose nicht hatten, gab es am dritten Tag Salami-Sticks, ein Paar Mozzarellabällchen am Spieß und ein gebuttertes Vollkornbrötchen. Das Kind aß das Vollkornbrötchen. Salami würde es nicht mögen und den Mozzarella hätte ich nunmal nicht gewürzt – auch hätte ich vergessen die Garnitur mit Basilikumblättern hinzuzufügen.

Für den nächsten Tag war ich relativ ratlos. Kind 1.0, der Internetrecherche schon lange mächtig, zog sich mit Kind 2.0 zurück und mir wurde dann folgender Link präsentiert (Bitte nicht klicken, wenn die Kinder mit dabei sind). Mit dem Totoro and Bear Calzone Bento könne ich ja mal einsteigen.

Totoro Calzone Bento, a photo by sherimiya on Flickr.
Totoro Calzone Bento, a photo by sherimiya on Flickr.

Nur den Brokkoli könne ich weglassen. Die Äpfel natürlich auch und naja so richtig lecker seien die Zuckererbsenschoten und der Mais auch nicht.

Ich bastelte also einen Hasen aus Brot.

Am Nachmittag saß der Hase immer noch in der Brotdose. „Ich kann nichts mit Augen essen, Mama“, lautete die Erklärung.

Ich setze mich in der Nacht dann nach getaner Hausarbeit an meinen Computer und absolvierte den Online-Kurs Brote ausstanzen für Anfänger, um perspektivisch gegen Ende des Jahres das große Bento-Box-Vordiplom zu machen und erzeugte* ich ein Mini-Bierschinken-Sandwich, welches ich aufwändig dekorierte**.

 

Bierschinken-Sternchen garniert mit pflückfrischen Basilikum auf Senfcreme
Bierschinken-Sternchen garniert mit pflückfrischen Basilikum auf Senfcreme

*Die Herstellung dieses ca. 1,5 x 1,5 cm großen Sandwiches hat ca. 120 Minuten in Anspruch genommen.

**Ein bisschen schade ist, dass das Schirmchen nicht in die Brotdose passt. Ich musste es für die Schule dann weglassen.

 

 

 

 

Bleibt am Ende nur eine Frage: Was macht man mit den „Resten“?

Bento2
Mutti-Bento

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein außerordentlicher Dank für die Inspirationen gilt der Schulbrotselbsthilfegruppe auf Facebook.

Ich habe fertig

Das zweite Kind ist eingeschult und somit treten wir ein in eine neue Ära der Informationslosigkeit.
Kind 2.0 war tatsächlich schon immer relativ selbständig und auch ziemlich mutig und so führten wir bereits vor der Einschulung intensive Diskussionen, ob es wirklich nötig sei, Kind 2.0 zur Einschulung zu begleiten. Da unsere Argumente nicht zählten, blieb es am Ende bei einem freundlichen „WIR KOMMEN MIT UND BASTA!“
Am ersten echten Schultag dann, war Kind 2.0 ziemlich genervt, als wir es erneut begleiten wollten. Es wimmelte uns am Schultor ab. „Bitte, das ist doch voll peinlich, geht bitte einfach weiter!“
Mit zitternder Unterlippe und einem schüchternen Winken ließen wir das Kind ziehen. Es drehte sich kein einziges Mal um.
Am Nachmittag dann strömten die anderen Mütter an mir vorbei in die Schule. Ich stand hinterm Baum versteckt am Eingang als das Kind zur verabredeten Uhrzeit erschien.
„Hallo Mama“
„Hallo Kind, na wie wars?“ Ich hatte den ganzen Tag während der Arbeit Probleme mich zu konzentrieren. Mein Kind! Mein Baby! Mein Schnuffelchen! In der Schule! So groß! Die Zeit etc.
„Gut.“
Wir liefen ein Stück weiter. Ich wollte abwarten, ob es von selbst was erzählen würde. Ich räusperte mich.
„Erzähl doch mal!“
„Was denn, Mama?“
„Na wie wars? Wie ist die Lehrerin? Die Erzieherin? Wie läuft das mit dem Essen? Hast Du Dein Essen gegessen, Kind?“
Genervter Blick. „Hab ich Mama. Sollte ich doch auch.“
„Ja, hm schön! Und die anderen Kinder?“
„Die waren auch da.“
„Sind die denn nett?“
„Ja.“
„Hast Du schon eine Freundin oder einen Freund?“
„MAMA, ich bin erst einen Tag in der Schule, so schnell befreundet man sich nicht.“
„Verstehe. Und das Essen?“
Das Kind geht ein Paar Schritte schneller. Ich laufe hinterher. Auf einer Bank sitzen zwei Mädchen. Sie rufen „Hallo Kind 2.0!“
Meine Chance auf mehr Informationen! „Na? Seid ihr in einer Klasse?“
Drei entsetze Augenpaare starren mich an.
„MAMA, die sind in der VIERTEN!“
„Oh, ich äh ja, ich ähm wollte schon fragen, warum ihr so groß seid“ Ich laufe weiter. Hinter mir entschuldigt sich Kind 2.0 für mein Verhalten.
Zuhause legt es die Brotdose und die Trinkflasche auf die Spüle und packt für den nächsten Tag Hausschuhe, die es für den Hort braucht in den Schulranzen.
Die Erziehung ist hiermit abgeschlossen, würde ich sagen.