Gesetzeskonformität ist mir wichtig, mein Über-Ich ist stark. Dennoch muss ich es gelegentlich in die Knie zwingen. Z.B. wenn ich WM-Karten geschenkt bekomme.
Der Umstand dass auf der Eintrittskarte Smith, Thomas und nicht Nuf, die steht, darf kein Grund sein, mir das Spiel nicht anzusehen. Schließlich habe ich eine Verantwortung meinen zukünftigen Enkeln gegenüber, die mich eines Tages fragen werden: „Oma Nuf, welches Spiel hast Du im Sommer 2006 gesehen, als die Welt zu Gast bei Freunden war?“
Am Freitag, den 23. Juni 2006 mache ich mich auf, das Vorrundenspiel Ukraine gegen Tunesien zu sehen. Von Bekannten habe ich gehört, dass die Personalausweise nur stichprobenartig kontrolliert werden. Um der Stichprobenstatistik aus dem Weg zu gehen, sondiere ich zunächst die Lage. Es gibt ca. 600 Eintrittsmöglichkeiten in das Stadion. Ich entscheide auf keinen Fall zu einer Frau zu gehen. Frauen sind zu Frauen stets gemein und lieben nichts mehr als einer anderen Frau eins auszuwischen.
Also suche ich mir den freundlichsten und jüngsten Herren und stelle mich brav an. Als ich an der Reihe bin, klimpere ich mit den Wimpern, wie eine getunte Barbie.
„Einen Moment“ sagt der Mann lächelnd, „ich hole meine Kollegin“ und mir bleibt das Herz stehen. Seine Kollegin, das ist eine ganz Genaue. Mehr als zehn Minuten durchsucht sie meine Handtasche. Jeden Kuli dreht sie auf, am Lippenstift riecht sie, ins Brillenetui will sie schauen, bei der Kamera die Akkus sehen, die Tasten des Handys drücken, das Lidschattenkästchen von innen begutachten. Die Eintrittskarte will sie leider auch begutachten. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, sieben Ausreden in zehn Millisekunden schießen mir durch den Kopf.
– Meinen Mann, Thomas Smith, den habe ich gerade verloren, der Arme steht jetzt irgendwo mit meiner Karte und kommt nicht rein.
– Thomas Smith, so heißen gut 30% aller Frauen in der Ukraine, das ist so wie der Nachname Zhang in China.
– Erbarmen, haben sie doch einfach Erbarmen!
Zum Glück zittere ich so, dass meine Handtasche zu Boden fällt. Die Sicherheitsfrau hilft mir eilig meinen Krempel wieder einzupacken und sagt, ich solle mich sputen, hinter mir bilde sich schon eine Schlange.
Weiter, das ist ein Drehkreuz, wo die Karten noch mal kontrolliert werden. Grünes Licht, grünes Licht, grünes Licht, rotes Licht. Kein Muster zu erkennen. Zufallsstichproben? Ich stelle mich an die Schlange, an der ich das letzte Mal ein rotes Licht gesehen habe. Stecke meine Karte in den Schlitz und erwarte, dass sie eingezogen wird. Starre schwitzend auf die Karte. Starre und starre, als ich aus der Ferne höre: „Junge Dame, gehen sie bitte weiter?“
Ich begreife, die Karte muss ich eigenhändig wieder rausziehen! Verkrampft lächle ich und laufe mit butterweichen Knien weiter. Durst habe ich jetzt. Den ersten Schluck vom halben Liter Wasser trinke ich, den Rest schütte ich mir zur Abkühlung über den Kopf. Unter all den Verrückten falle ich nass gar nicht auf.
Die Stimmung ist grandios, alle haben sich lieb, auch ich habe alle lieb, ab heute bin ich Fußballfan.
Die Einsichten aus dem Erlebnis sind folgende:
– Der Spielball fliegt im Minutentakt aus dem Spielfeld hinter die Absperrung. Im gleichen Takt werden neue Bälle ins Feld geworfen. In der ersten halben Stunde sind es rund 23 Bälle.
– Live ist ein Fußballspiel wirklich spannend. Jedenfalls mindestens dreißig Minuten und dann, wenn wenigstens einer der Spieler sich bewegt.
– Multitasking erreicht seine Grenzen, wenn man sich an der Laolawelle beteiligt und versucht dem Spielverlauf zu folgen.
– Wichtigster Anfeuerungsspruch: „Nu lauf, nu lauf doch!“
– Wenn das Publikum sich langweilt, beginnt es, sich selbst zu beschäftigen. Beliebteste Maßnahme: Aufstehen, weil man ein Deutscher ist oder einfach Deutschland, Deutschland rufen.
– Tunesier haben so viel Brusthaare, dass man beim Trikottausch denkt, sie hätten schwarze Unterhemden.
Abschließend ein Witz für das Viertelfinale:
Erschöpft vom Rumgerenne im Schwedenspiel*, diskutiert die deutsche Mannschaft, wie man mit möglichst wenig Kraftaufwand die Argentinier besiegen könnte.
Nach einiger Zeit sagt Podolski: „Wisst ihr, ich mach das alleine. Geht ruhig Bier trinken, ich schaffe das!“ Die Begeisterung ist groß, man geht in die nächste Kneipe.
Nach 30 Minuten stellt man das Fernsehgerät an. 1:0 für Deutschland, Podolski 5. Minute
Freude im Team, die Glotze wird wieder abgestellt. Kurz vor Ende des Spiels, schaltet man aus Neugierde noch mal an. 1:1! Rodriguez, 90. Minute.
Panik bricht aus, man rennt zurück ins Stadion: „Podolski wie konnte das passieren?“
„Tja, in der 11. Minute, da habe ich eine rote Karte bekommen…“
*Ohhhhhh die armen Schweden, jetzt müssen sie alle wieder nach Hause! Wie schade!