Mein analoger Tod

Wenn man selbst Gast auf einer Beerdigung ist, stellt man sich beinahe automatisch die Frage, wie die eigene Beerdigung wohl sein würde. So ging es mir jedenfalls das letzte Mal, und der Gedanke hat mir Unbehagen bereitet. Ich möchte jetzt nicht sagen, dass ich ein Kontrollfreak wäre, aber ich richte meine Feiern schon gerne selbst aus.

Zuallererst plane ich, erst im hohen Alter zu sterben. Das hat u.a. den Vorteil, dass meine Freundinnen mit der Planung meiner Bestattung betraut würden. Das würde mich freuen, denn ich traue ihnen in jedem Fall ein ganz grandioses Fest zu. Sie würden weder Kosten noch Mühen scheuen, und ganz sicher würde alles perfekt aussehen, und auch die Rede wäre passend und zugleich herzergreifend. Nichtsdestotrotz erfüllt mich diese Vorstellung nicht unbedingt mit Freude, und das hat zwei Gründe.

Erstens: Ich bin sehr geizig und mich schmerzt allein der Gedanke an das investierte Geld. Die Kränze, der Sarg, die Urne, der Grabstein! Meine Güte! Der Leichenschmaus! So hohe Ausgaben! Das möchte ich nicht.

Noch schwerwiegender ist der zweite Grund: Alle müssten Rotz und Wasser heulen, die Schminke verliefe, Taschentücher würden verschwendet und das ist ein sehr trauriger Gedanke.
So bleibt am Ende nur eines: Ich möchte bitte gerne meine Beerdigung kostengünstig selbst planen.

Alles fängt mit der Wahl des idealen Ortes an. Ich habe lange über den optimalen Bestattungsort für mich nachgedacht. Es müsste ein Ort sein, an dem ich mich wohl fühle und gleichzeitig ein Ort, den meine Angehörigen möglichst ohne großen Aufwand besuchen können. Berlin wäre eine Option, weil ich hier lebe – aber es gibt einen zweiten Ort, an dem lebe ich auch und ehrlich gesagt, liebe ich den noch mehr: Es ist das Internet.

Ich fühle mich bereit für eine digitale Bestattung. Ich finde das zeitgemäß und gemessen an der Zeit, die ich lebend im Internet verbracht haben werde, wäre das nur konsequent. Für die eigentliche Zeremonie schwebt mir eine Art Splitscreen vor. Links ein Videostream, der meine Urne zeigt. So müsste niemand anreisen und alle können es sich in Jogginghosen bequem machen.
Neben dem Videostream rechts werden die Tweets meiner Gäste eingeblendet. Vom Social TV (beispielsweise sonntags beim Tatortschauen) kennt man das. In meinem Fall würde unter einem speziellen Hashtag getwittert: Wir trauern um Patricia, kurz #wtuP.

Eine Stunde lang darf jeder ein paar Erinnerungen twittern.
Ich kannte sie aus dem Internet und sie war so wunderschön. #wtuP
Patricia war einfach nur zauberhaft. #wtuP
So klug!!11! #wtuP“ und diejenigen, denen nichts einfällt, die retweeten einfach „+1 »Patricia war so zauberhaft #wtuP«“ oder etwas wortkarger „.#wtuP„.
Sollte die Stimmung kippen, möchte ich, dass der Bestatter das Prozedere unterbricht und ankündigt, dass nun mir zum Gedenken mein Lieblingslied gespielt wird. Ich möchte, dass mein Lieblingslied von einem Kassettenrekorder gespielt wird, der hinter meinem ausgedruckten und gerahmten oder auf einem Screen gezeigten letzten Selfie steht.

Es soll eine dramatische Pause geben und dann drückt der Bestatter Play. Es rauscht und knistert und mit 120 dB erklingt „Ding dong, die Hex ist tot“. Und zwar das Original aus dem Zauberer von Oz Musical von 1939 und nicht die Version, die der Pianist in „Die nackte Kanone 2 1/2“ spielt.

Ding! Dong! The Witch is dead!
Which old witch? The Wicked Witch!
Ding! Dong! The Wicked Witch is dead!

Let’s all laugh and sing
And ring the bells now!
Hey ho, the Merry-O!

(Wiederholung)
Danach kommt jemand, holt meine Asche und verteilt sie in einem Ruheforst. Ein schöner Gedanke. Physisch werde ich Baumdünger und mein Geist und alle Gedanken an mich sind Teil des Internets. Am Ende bin ich überall und immerda.


Der Text wird heute gemeinsam mit zunächst 134 anderen Texten in der eBook-Reihe „1000 Tode schreiben“ erscheinen. Insgesamt wird es 1000 Texte geben.

Geizkörper, der*

Ich möchte mal festhalten: Ich bin nicht witzig. Das schließt allerdings nicht aus, dass Leute herzlich über mich lachen, weil sie denken, ich mache Witze. Eine prototypische Situation ist zum Beispiel, wenn ich davon berichte, wie bei uns zu Hause geheizt wird. Dazu muss man wissen, dass ich generell deutlich lieber friere als dass ich schwitze. D.h. Herbst, Winter und Frühling sind mit hundert Mal lieber als Sommer. Dazu kommt, dass ich gerne spare. Mein Vater hat mir jahrelang Sittsamkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und Sparsamkeit beigebracht (zumindest bevor er dann auch ins YOLO-Alter kam…).

Jedenfalls: Ich heize nicht. Es gibt so viel was man tun kann, BEVOR man leichtfertig heizt. Lange Unterwäsche, warme Rollkragenpullover, Skihosen. So lange man keinen kondensierten Atem sieht, ist es nicht zu kalt. Bei uns hat jeder eine Kuscheldecke und die schlagen wir uns um die Schultern und laufen wie Könige mit langen Schleppen durch die Wohnung, wenn wir von Zimmer zu Zimmer schreiten.

Die Türen sind stets geschlossen zu halten und die roten, steif  gefrorenen Hände, wärmen wir uns an warmgelaufenen Leuchtkörpern.

Das hat so viele Vorteile:

  • Nur selten fühlt man sich so kuschelig, dass man schläfrig wird.
  • Die Kinder machen deutlich weniger Unordnung, weil sie sich zwischen Oktober und Februar hauptsächlich in ihren Betten aufhalten.
  • Wenn die Großmütter zu Weihnachten fragen: Was wünscht ihr euch zu Weihnachten, können wir immer antworten: warme Socken.
  • Wenn man raus muss, ist die Differenz zur Außentemperatur z.B. nicht so hoch – was die Entscheidung die Wohnung doch mal zu verlassen, extrem vereinfacht.

Generell ist es sehr viel geselliger. Wenn wir kochen, sammeln sich alle Familienmitglieder in der Küche. Wir erfreuen uns an der Abwärme und wenn wir backen, öffnen wir den Ofen und lassen die Restwärme entweichen.

Überhaupt wird entstehende Wärme viel besser genutzt und nicht einfach verschwendet. Am Wochenende waschen wir Wäsche und weil die Wäschberge nicht trocken werden (dafür ist es wiederum nicht kalt genug. Wäsche trocknet erst bei Frost wieder: Stichwort Sublimation), haben wir uns einen Trockner gekauft. Der heizt das Badezimmer ganz wunderbar und wenn 21 Grad erreicht sind, dann werden die Kinder gebadet. Da die Kinder mit meinem Heizverhalten aufgewachsen sind, erscheint ihnen das wie ein Saunabesuch. Das Badewasser muss auch nur 26 Grad haben. Andernfalls schreien sie hysterisch: ZU HEISS! Ich habe das ausgerechnet. Nicht zu heizen und nur lauwarm zu baden, spart doppelt so viel Geld wie der Trockner Stromkosten verbraucht.

Abends, wenn alle Kinder in einem Bett liegen und ich mich im Wohnzimmer einsam fühle, hole ich meine alten Laptops raus und lege sie mir auf den Schoß oder an die Lenden, so dass ich mich an ihren Lüftern wärmen kann.

Dass mein Verhalten richtig ist, zeigen stichprobenartige Rückversicherungen meiner Peergroup:

 
Mein Mann hat immer wieder versucht, heimlich zu heizen. Er schlich durch die Wohnung und drehte die Heizung auf „1“. Das muss doch nicht sein. Frostschutz muss reichen. Ich meine, ich möchte ja auch nicht, dass die Rohre einfrieren – aber die Heizung gleich auf „1“ aufdrehen? Mann muss ja nicht gleich übertreiben!!!

 

*Quelle:

Im Laufrad

Seit einem Jahr habe ich immer wieder kinderfreie Zeit. In diesen Zeiten habe ich versucht zu entschleunigen. Zu Beginn hat das gut geklappt, aber ich merke, wie mir das wieder entgleitet. Das Nichtstun, das Liegenlassen. Wenn ich das wirklich schaffen will, muss es mir vornehmen und mich daran erinnern. Ansonsten laufe ich im Alltagsmodus und da heisst es immer alles sofort erledigen. Egal, ob man Lust (hahahahaha!) drauf hat, ob man müde ist, erschöpft oder krank. Egal. Zähne zusammenbeißen und jeden Punkt erledigen und komplett abarbeiten.

Wenn man das mit Kindern nämlich nicht tut, dann kommt es zu Ketteneffekten, die man so leicht nicht mehr aufholt. So jedenfalls meine Erfahrung. Unter Garantie ist immer ein Kind spontan krank, will überraschend irgendwo abgeholt werden oder die Welt geht unter, wenn man nicht JETZT sofort irgendwas bastelt, was der Schule am Vortag eingefallen ist.

Mein Tag beginnt um 6 und endet quasi um 22 Uhr. Aber nur, wenn ich nicht zwischendrin anhalte. Frühstück machen, Schulbrote schmieren, sich selbst fertig machen, den Kindern beim Anziehen und Zähne putzen helfen, in die Schule bringen, in den Kindergarten bringen, weiter in die Arbeit, arbeiten, von der Arbeit in den Kindergarten, einkaufen (oft), nach Hause, Schulsachen erledigen, Hausarbeit, Abendbrot, Kleinkram erledigen, Kinder bettfertig machen, vorlesen, singen, Küche aufräumen. Dazwischen fallen Vorsorgetermine, Amtstermine, Kinderverabredungen, Kindersport, Sondereinkäufe (Schuhe, ständig wachsen die Kinder aus den Schuhen raus!), Steuererklärung etc. etc. an.

Alles auf die Minute getaktet. Wenn dem Kind auf halben Weg zur Schule einfällt, dass es sein Hausaufgabenheft am Schreibtisch vergessen hat, gerät der ganze Plan durcheinander. Zu spät in der Schule, die Türen geschlossen, die Tram verpasst, die Bringzeit ist vorbei… zu spät in der Arbeit, Minusstunden…

Egal wie gut man plant, egal wie viel Zeitpuffer, irgendwie passiert immer irgendwas, das das ganze Gebilde zum Einsturz bringt. Schneller! Das muss doch effizienter gehen? Hetzen! Kinder anflehen. Schneller. Schneller! Im Kopf schon immer beim nächsten Punkt auf der Agenda. Ich muss doch noch! Hab ich eigentlich schon? Wäre es nicht an der Zeit endlich mal wieder?

Das hatte ich so satt. Denn das Resultat ist immer das selbe. Am Ende des Tages hab ich nicht alles geschafft, ich bin völlig erschöpft und schlimmstenfalls hab ich eine Kacklaune.

Also hab ich damit aufgehört. Ich zwinge mich mit dem Kopf bei einer Sache zu bleiben. und nicht schon geistig in den nächsten Punkt der ToDo-Liste abzugleiten. Den Weg zum Kindergarten muss ich ohnehin gehen. Ob ich ihn in 8 oder 12 Minuten gehe, ist egal. Ich kann ihn hetzen, mein Kind an meiner Hand mit mir zerren und abgenervt sein, wenn es bei einer Baustelle stehen bleibt. Ich kann das aber auch lassen. Ich kann mein Kind an die Hand nehmen, ihm zuhören, mich beim Baggeranschauen entspannen und mich über das milde Herbstwetter freuen. Ich renne keiner verpassten Tram mehr hinterher. Wenn ich müde bin, gibts Pommes oder Tiefkühlpizza. Wenn die Sonne scheint, gibts Eis. Auch im Winter. Ich kaufe Fertiglaternen. Der Weihnachtsbaum ist künstlich. Wir schauen Shaun das Schaf und Sendung mit der Maus, wenn wir alle platt sind. Das Kinderzimmer wird nicht jeden Tag aufgeräumt. Die Klamotten haben manchmal Flecken und an und ab finden sie ihren Weg vom Wäscheständer gar nicht mehr in den Schrank sondern direkt an den Körper. Wenn wir was zum Kindergartenbuffet beisteuern müssen, besorge ich einen Kuchen, den man einfach nur auftaut.

Seitdem ich das so entschieden habe, geht es mir und damit auch den Kindern besser. Ich muss nicht mehr auf Wochenenden oder Urlaub warten, um schöne Sachen zu erleben oder um auf Entspannung zu hoffen. Die schönen Momente warten einfach im Alltag auf mich. In den Gesichtern meiner Kinder, die mir mit leuchtenden Augen was aus ihrem Alltag erzählen, in ihren Händen, die sie mir beim Vorlesen auf den Arm legen oder in ihrem Lachen, wenn ich sie beim Schaukeln so hoch anschubse, wie ich kann.

Ich muss mich nur immer wieder ermahnen nicht in dieses Hamsterrad Alltag zu fallen. Natürlich kann man nicht immer tiefenentspannt sein und manchmal muss man eben doch einem Bus hinterher rennen – aber wenigstens habe ich gelernt zu differenzieren und eben nicht jedem verpassten Bus fluchend nach zu hetzen.

 

MAMAAAA?!?

Unsere Wohnung hat vier Zimmer – was zugegebenermaßen reichlich ist, aber dennoch recht überschaubar. In meiner Vorstellung jedenfalls. Um einmal in jedes Zimmer zu schauen, benötigt man ungefähr zehn Sekunden.
Was ich in innerhalb unserer Wohnung tue, ist ebenfalls sehr vorhersehbar, da regelhaft. Ich möchte fast behaupten, dass es sehr wahrscheinlich ist, mich zu bestimmten Uhrzeiten in bestimmten Zimmern zur Verrichtung bestimmter Tätigkeiten anzutreffen.
Die Kinder rennen den ganzen Tag in der Wohnung umher. Die einzige Regel, die ich bislang ableiten konnte lautet: Da wo Mama ist, spiele ich. Also z.B. in der engen Küche, vorzugsweise direkt hinter meinen Füßen oder aber an engen Durchgängen. Im Flur oder auch gerne mal in einem Türrahmen. Sie haben ein wahnwitziges Feingefühl für die toten Winkel meines Körpers und wenn sie nicht so laut wären, sie hätten mich durch ihr plötzliches Auftreten schon einige Male zu Tode erschreckt.
Was das Verschwinden angeht, muss ich eine ähnliche Fähigkeit haben, die ich aber nicht steuern kann. Die Kinder sind gelegentlich so in ihr Spiel vertieft, dass sie mich vergessen und mir nicht folgen, wenn ich den Ort wechsle. In einem Zyklus, deren Intervalle ich bislang noch nicht näher untersuchen konnte, fällt ihnen dann plötzlich ein, dass ich nicht mehr da bin. Statt sich durch die Wohnung an die wahrscheinlichen Plätze meines Aufenthalts zu begeben, bleiben sie wie Salzsäulen stehen und brüllen plötzlich: Mama? MAMA? MAAAAAMAAAA??!! MAAAAAMMMAAAA!
Zwischen dem ersten Mama und dem zweiten Mama liegen in der Regel keine zehn Millisekunden. Es ist mir meistens unmöglich zwischen dem einen und dem nächsten verzweifelten Mama-Ruf „Hier bin ich!“ zu rufen. Weswegen die Mamarufe immer lauter werden und schon nach fünf Wiederholungen kurz vor einem Panikausbruch stehen.
Dieses Verhalten treibt mich in den Wahnsinn. Ich habe schon viel versucht. Ignorieren z.B., weil ich hoffte, die Kinder beruhigen sich von selbst, weil ihnen klar wird, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass ich sie von einer Sekunde auf die andere verlasse.
Oft habe ich auch schon versucht, zu ihnen zu gehen und sie zu bitten für die Zukunft zwischen dem einen und dem anderen Mamaruf langsam bis zehn zu zählen, so dass ich überhaupt reagieren kann.
Nach dem zweiten Mamaruf laut „Ich bin im <beliebiges Zimmer>“ brüllen, in der Hoffnung, dass sie mich hören und dann zu mir kommen.
Alles ohne Erfolg.
Die Kinder schreien einfach so lange, bis ich alles stehen und liegen lasse und zu ihnen eile. Wenn sie mich sehen, hören sie auf. Wenn ich frage, was denn los ist, spielen sie weiter als sei nicht gewesen.
Es ist rätselhaft.

Fiel mir so ein, als ich diesen Tweet las heute:

Der wahrhaftig existierende Hipster

Es ist 6.15 Uhr an einem Montag Morgen. Ich warte auf die U-Bahn. Ich fühle mich müde und erschöpft. Am Vortag bin ich mit einem Buch früh ins Bett gegangen und schon nach 50 Seiten werden mir die Augen so schwer, dass ich das Licht ausmache und um 21.00 Uhr tief und fest schlafe. Als Ausgleich wache ich um kurz vor 4.00 Uhr auf. Es gelingt mir nicht mehr einzuschlafen. Zwei Stunden später bin ich müde. Zu müde für alles. Ich ziehe mich lustlos an, trinke einen Kaffee, suche meine Kopfhörer und stehe schließlich musikhörend am Bahngleis und betrachte die anderen Wartenden.

Mein Blick fällt auf einen außergewöhnlich großen Mann mit Bart. Sein Bart ist dunkel und voll. Ein bißchen zu lang für meinen Geschmack aber sehr prachtvoll. Tatsächlich ist „prachtvoll“ das Wort, das mir zu seinem Bart einfällt. Den Falten in seinem Gesicht nach zu urteilen ist er über vierzig. Er hat ganz wunderhübsche Falten. Fast so wie Brad Pitt, dessen Tränensäcke ich echt sexy finde. Er trägt einen Undercut. Dieses Wort kenne ich nur, weil ich es irgendwo im Internet gelesen habe. In seinen Ohren weiße Ohrstöpsel. Er hört regungslos Musik. Seine dunkelgraue Jeans ist nach oben gekrempelt. Sie hängt tief, der Schnitt ist gerade, gehalten wird  sie von einem schwarzen Ledergürtel. Man sieht seine Unterhosen – besser gesagt: Boxershorts. Am Gummiband steht tatsächlich Calvin Klein. Ich überlege, ob ich das albern finde. Seine Füße stecken in Sneakern. Er trägt keine Socken. Als ich später den Begriff Hipster google steht da „Shoes without socks: to say – I’m aware of convention but I reject it.“

Die U-Bahn fährt ein. Da die S-Bahn heute nicht fährt, ist sie sehr voll. Wir quetschen uns zu den anderen. Der Typ hält sich an einer der oberen Stangen fest. Ich komme da nur ran, wenn ich meine Arme gerade ausstrecke. Er ist so groß, dass er seinen Arm beim Festhalten anwinkeln muss. Er trägt eine schwarze Steppjacke. Ich betrachte die Rauten und denke daran, dass ich diese Art Stoff das letzte Mal bei meiner Mutter auf dem Bett liegen sah. Unter seiner Jacke sehe ich ein weißes T-Shirt mit Aufdruck, den ich nicht vollständig entziffern kann, weil er seitlich steht. Es ist kurz. Weil er seinen Arm nach oben streckt, sieht man ein winziges Stück seines flachen Bauchs.

„Ob dem nicht kalt ist?“, ist mein erster Gedanke und ich muss lachen. Ich bin so eine Mutti geworden.

Der Typ sieht genau genommen aus wie aus einem Hipster-Magazin ausgeschnitten. Ich finde faszinierend wie jedes Detail stimmt. An seiner Seite sieht man ein großflächiges Tattoo.  Seine Ohren haben Tunnel. Ich bin zu alt, um Tunnel schön zu finden. Ich hab nur einmal Tunnel gesehen, bei denen ich dachte: das macht Sinn. Die hatten ungefähr 5 cm Durchmesser und in dem Ring war eine Batman-Fledermaus zu sehen. Ich hab mir vorgestellt, wie man in der Dunkelheit hinter der Trägerin steht und ihre Batman-Tunnel mit einer Taschenlampe anstrahlt, so dass der Schatten auf die gegenüberliegende Hauswand fällt.

Der bärtige Mann hat keine Fledermäuse in den Tunneln. Sie sind nicht übertrieben weit gedehnt und es sieht zu seinem Look sehr stimmig aus. Ich grüble, ob es erst diese Menschen gibt und die Zeitungen dann über sie schreiben oder ob die Zeitungen solche Menschen erfinden und bestimmte Menschen das so toll finden, dass sie los ziehen, sich die entsprechenden Accessoires besorgen und dann mit einer Abbildung zum Frisör gehen, um sich entsprechend stylen zu lassen.

Der Mann, der so aussieht wie eine Fotografie, sieht in all seiner Inszeniertheit wirklich unfassbar toll aus. Unbewusst prüfe ich meine Spiegelung im U-Bahnfenster. Der Pony sitzt schief und auch sonst sehe ich echt nicht so toll aus. Während ich mein Spiegelbild betrachte, sehe ich eine Frau hinter mir, die scheinbar das selbe tut. Ich drehe mich um und mir fällt auf, dass sie ungewöhnlich gerade steht und ebenfalls diesen Mann anschaut. So wie die Frau daneben und die daneben und die daneben. Ein seltsamer Anblick. Normalerweise starren alle ohne Fokus vor sich hin, lassen die Schultern hängen oder tippen in ihre Telefone. Ich stehe aber in einem U-Bahn-Abteil mit Damen, die ihren Rücken gerade durchgestreckt und ihre Bäuche eingezogen haben. Eine zieht ihren Lippenstift nach. Um 6.18 Uhr. So lange kann es nicht her sein, dass sie den Lippenstift drauf gemacht hat.

Der Typ indes schaut weiter in sein Telefon und blättert seine iTunes Bibliothek durch. Er scheint nichts von dieser Szene mitzubekommen.

Wir kommen an der Endhaltestelle an. Die Türen öffnen sich, der Mann zieht den Kopf ein und tritt auf den Bahnsteig. Dann verschwindet er mit dem Menschenstrom. In der U-Bahn höre ich ein Ausatmen. Vielleicht war es auch ein kollektives Seufzen.

Podcastempfehlung – Not doing anything is not an option

Meine eigene Filterbubble ist ganz bezaubernd und wenn die Männer nicht gleich selbst Feministen sind, dann sind es „schlimmstenfalls“ Männer, die die ganze Aufregung um Frauenquote, #aufschrei und Gleichberechtigung nicht so recht verstehen, weil sie selbst das Gefühl haben, mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun zu haben, weil sie eben keine sexistischen Idioten sind.

Mit einem Freund habe ich schon oft darüber gesprochen, dass das Thema aber alle angeht. Auch die, die Frauen nicht schlecht behandeln, sie einstellen würden, die nicht in Klischees denken etc.
Mein Problem war allerdings meine und die Erfahrung anderer Frauen und die sich daraus ergebenen Konsequenzen irgendwie zu vermitteln.
Anne Wizorek widmet dem Thema „Mitmachen für Männer. Was es heisst ein guter Verbündeter zu sein“ in ihrem Buch „Weil ein #Aufschrei nicht reicht“ ein ganzes Kapitel. Ich glaube allerdings, dass niemand (oder zumindest sehr, sehr wenige), der nicht ohnehin schon dem Thema Feminismus aufgeschlossen ist, dieses Buch liest (leider).
Außerdem denke ich, dass viele Männer keine Tipps von einer Feministin bekommen wollen. Deswegen begrüße ich es, dass drei Größen der amerikanischen Tech-Szene sich Gedanken zu dem Thema gemacht haben.

Daher möchte ich den Accidental Tech Podcast Episode 81 ab ca. Minute 70 ans Herz legen.
Völlig undogmatisch sammeln die drei da im Gespräch Tipps, die helfen sich besser in die Lage von Frauen zu versetzen. Sie erklären auch, warum es sinnvoll ist sich mit Trollen auseinanderzusetzen und warum es so leicht ist von außen zu sagen: Ja, selbst schuld, was legen die sich auch mit jedem an.

Ich finde die Tipps großartig. Es ist nämlich keine rocket science Verständnis aufzubauen und adressiert sind diejenigen, die schon „good people“ sind.

„Just watch them [Feministische YouTube Channels, Blogposts etc.] and don’t think that you have to agree or to disagree…“
„Don’t be like, don’t feed the trolls [because …] not engaging is fine as long as you are not the target of the harassment.“
„Let idiots know that they are idiots.“
„Try to learn about the things that reveal your own biases [because …] once you see [the terrible things] it’s like how could I’ve never see them?“
„Be open to the idea, that you might be part of the problem.“
„There is no shame in realizing that you were wrong in the past and fix it in the future.“
„Say supportive things…“

(Abgetippt beim Hören, keine eins zu eins Zitate sondern aus dem Kopf)

Hört es euch selbst an… ich finde, es lohnt sich.

Serienempfehlung

Hachja. Als Studentin wohnte ich in einer WG und irgendwann als wir uns klassisch auseinanderstritten, wurde mir unter anderem vorgeworfen, ich würde mich in Themen reinsteigern und dann gäbe es nichts anderes mehr und das würde voll nerven. Das stimmt bis heute. Nur dass ich diesen Charakterzug lieber „Begeisterungsfähigkeit“ oder „Themenenthusiasmus“ nenne.

Drum – tut mir so leid, liebe LeserInnen, wenns nervt, aber mich treibt gerade dieses Genderdingens an. (Ganz so uninteressant scheint es auf der anderen Seite nicht zu sein. Ich hab selten über 10.000 Pageviews und mehrere hundert Reaktionen auf einen einzigen Artikel – mein schlechtes Gewissen hält sich also in Grenzen.)

Jedenfalls: Den viel zitierte Bechdel-Test kennt ihr vermutlich:

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Frauen in einem Film repräsentiert sind, werden drei Fragen gestellt:

  • Spielen mindestens zwei Frauen mit, die einen Namen haben?
  • Reden sie miteinander?
  • Reden sie miteinander über etwas anderes als einen Mann?

Besteht ein Film diesen Test indem alle drei Fragen mit „Ja“ beantwortet werden können, sagt das generell erstmal nichts über die Qualität als solches und auch nicht über dessen „feministischen Wert“ aus.

Jaaaa – kann man gleich bläken – da fallen nämlich einige Filme mit starken Frauencharakteren durch („Aliens“ oder „Lola rennt“ zum Beispiel) – dennoch versetzt mich dieser Test immer wieder in Erstaunen. Denn, wenn es um Frauen geht, ist ein Zitat, das ich neulich in der Rosa-Hellblau-Falle (S. 132 ff) gelesen habe, sehr zutreffend:

„Männer handeln, Frauen kommen (auch) vor.“ Zitat Erich Küchenhoff

Das Zitat ist übrigens von 1975 und wer jetzt denkt, es hätte sich seitdem maßgeblich etwas geändert – dem ist nicht so. Als die 500 erfolgreichsten Filme von 2007 bis 2012 ausgewertet wurden, zeigte sich, dass gerade mal 28 Prozent der Sprechrollen weiblich besetzt sind.

Warum schreibe ich das eigentlich alles?

Wenn ich außer dem Bloggen noch ein Hobby habe, dann sind es Filme und Serien. Mir ist aufgefallen, dass es erstaunlich wenig Filme und Serien gibt, die diesen Test bestehen. Für mich sind manche Serien, die von anderen in den Himmel gelobt werden, deswegen unerträglich. True Detective wäre da so ein Beispiel. Ja, Frauen spielen auch mit, aber nur als Mordopfer, Sexelement oder sonstwie Beiwerk. Mir reicht auch nicht der Hinweis, dass diese Darstellung eine Art Kritik dieser Klischees darstelle*. Das langweilt mich. Nein, Halt! Das stösst mich mittlerweile regelrecht ab.

Ich habe wirklich keinen hohen Anspruch an Filme. Ich liebe z.B. Fantasy und Science Fiction und da muss man wegen mangelnder Logik oft alle Augen zudrücken, aber wenn ich in den aktuellen Planet der Affen (Revolution) gehe und mein erster Gedanke ist: Wow, selbst bei den Affen gibt es nur eine einzige Frau, dann merke ich a) wie „verdorben“ meine Sichtweise in der Zwischenzeit ist und b) wie dämlich selbstverständlich es ist, Frauen/weibliche Wesen in Filmen nur als Beiwerk und Objekt zu zeigen.
Noch vor wenigen Monaten ist mir das nie aufgefallen. Ich hab früher auch gerne Computerspiele gespielt und es war für mich selbstverständlich, dass da Frauen nur nackt oder tot oder als nackte Tote oder als nackte noch zu tötende oder sonstwie zu missbrauchende Wesen auftauchen.

Es war normal. Es entsprach meinen Sehgewohnheiten. Es ist schließlich überall so: In den Computerspielen, in der Werbung, im Fernsehen, im Kino.

Vielleicht treibt mich dieses Thema plötzlich auch so sehr weil meine Kinder dem Kleinkindalter entwachsen (sind) und ich mich frage: Welche Computerspiele kann ich sie spielen lassen? Welche Filme kann ich sie anschauen lassen? Welche Serien taugen was, um ihnen ein ausgeglichenen Bild zu verschaffen. Wie kann ich erreichen, dass sie Frauen für vollwertige Mitglieder der Gesellschaft halten, die Stärken jenseits von Schönheit und perfektem Aussehen haben, die Berufe ergreifen, die Rechte haben?

Für das Kindesalter habe ich leider keine Liste. Aber mir war heute so danach für das Erwachsenenalter mal einige Beispiele aufzuzählen, weil ich nämlich genau das selbe Erlebnis wie Journelle hatte, als ich Orange Is The New Black entdeckte.
Eine Serie, die vor Diversität und Frauen quasi platzt. Eine Serie, in der es Falten gibt, schlechte Zähne, Narben, große Frauen, kleine Frauen, dünne Frauen, dicke Frauen und v.a. diese Frauen können alle sprechen (!).
Das hat mich total fasziniert. Wirklich. Da spielen Menschen mit.

Deswegen hier eine Liste von Serien, die mich dieses Jahr glücklich gemacht haben:

Orange Is The New Black

The Honourable Woman

The Fall

The Good Wife

(Aktuell läuft die 6. Staffel. Ich habe hier den Trailer der 1. Staffel verlinkt, um nicht zu spoilern)

Deswegen: Ich freue mich über weitere Empfehlungen für Erwachsene, aber auch Computerspiele und Filme für Kinder.

* „When it comes to women, True Detective is undeniably shallow—but I think it’s being shallow on purpose.

Übrigens vielleicht ganz interessant: Filme, die den Bechdel Test bestehen, haben deutlich weniger Budget, laufen aber erfolgreicher (Es wurde investierter Dollar zu eingespielter Doller ins Verhältnis gesetzt)