Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der eigentlich nie gebacken wurde. Wenn – dann gab es Fertigteigmischungen – was mich gar nicht gestört hat.
Einer meiner Lieblingskuchen war eine Backmischung namens „Tortina“, die es schon lange nicht mehr gibt. Im letzten Weisheits-Podcast haben wir über unsere Lieblingskuchen gesprochen und deswegen habe ich vorher nach dem Rezept gegoogelt und bin tatsächlich fündig geworden.
Weil das auf so große Begeisterung gestoßen ist, verblogge ich das Rezept, ganz so wie man das von einem ordentlichen Mutti-Blog erwartet (wie z.B. im Blog von Felix Schwenzel, dessen verbloggte Rezepte ich sehr gerne lese).
Zutaten
Kuchenschicht 1
100 g weiche Butter oder Margarine
140 g Zucker
1 Pck. Vanillin-Zucker
1 Pr. Salz
1 Ei (Größe M)
3 Eigelb (Größe M)
100 g Weizenmehl
3 gestr. TL Backpulver
50 g Feine Speisestärke
4 EL Milch
50 g Schokoflocken
Kuchenschicht 2
3 Eiweiß (Größe M)
120 g Puderzucker
100 g Gemahlene Haselnüsse
Kuchenschicht 3
Puderzucker
Zubereitung
Bis auf die Schokoflocken alle Zutaten von Kuchenschicht 1 nehmen, zusammenwerfen und rühren. Am Ende die Hälfte der Schokoflocken zärtlich in den Teig einrühren.
Für Kuchenschicht 2 die Eiweiße steif schlagen. Puderzucker reinsieben (man kanns auch klumpig reinwerfen und zerdrücken), Haselnüsse dazu, rühren und sich dabei immer fragen, was „vorsichtig unterrühren“ in herkömmlichen Rezepten wohl meint.
Springform ausfetten, Globsch von Kuchenschicht 1 reinwerfen, glatt streichen, Globsch von Kuchenschicht 2 reinwerfen, glatt streichen. Ganz oben drauf die übrig gebliebene Hälfte der Schokoflocken der Zutaten aus Kuchenschicht 1 auf dem Teig verstreuen. Häufchenbildung vermeiden.
Das Ganze bei 180 Grad eine Stunde in den Ofen.
Kuchen auskühlen lassen, aus der Form nehmen und mit Puderzucker (diesmal aber wirklich sieben) bestreuen.
Fertig!
Wer es komplizierter mag mit einer bestimmten Reihenfolge welche Zutat mit wem und so, der liest das Originalrezept.
Ich bin seit 6.50 Uhr wach. Leider habe ich den Kindern gesagt, dass wir ausschlafen möchten und sie uns nicht vor 9.30 Uhr wecken sollen. Es ist verrückt, seit dem letzten Urlaub klappt das. Ich hab einfach eine Regel aufgestellt und sie halten sich (wenngleich immer unter Protest und mit Augen verdrehen) dran. Vor 9.30 Uhr aufzustehen, wäre jetzt natürlich fatal. Ich lese also ein wenig im Internet, dann kommentiere ich noch ein bisschen und endlich ist es 9.00 Uhr. Dann gebe ich auf und gehe in die Küche. Mein Freund versteht nicht, was so hart am Ausschlafen ist.
Natürlich wären die Kinder schon lange verhungert. Zum Ausschlaf-Deal gehört, dass sie selbst bis mindestens 8.00 Uhr in ihrem Zimmer bleiben und dann Schoko-Müsli essen dürfen. Erziehung durch Bestechung heißt das, glaube ich.
Es gibt bei uns fast nie süßes Frühstück. Keine Marmelade und allerhöchstens am Wochenende sowas wie Nuss-Nougat-Creme. Ich rede mir ein, dass das deswegen OK ist.
Dann stehe ich mit meinem Freund auf. Wir frühstücken erstmal. Meine Frühstückskultur hat sich durch das Internet total verändert. Früher gabs eine lieblose Stulle und fertig. Durch die ganzen Fotos von Frühstückstischen, habe ich jetzt andere Bedürfnisse. Vor allem nach Schnickschnack. Avocado! Frische Paprika! Körnerbrötchen! Würden wir nicht gleich zu einem Brunch gehen, wäre da noch viel mehr. Und diese Schüsselchen! Ich liebe sie.
Ich bin sogar so weit, dass ich oft eine Kerze anmache. Heute nicht. Man muss ja nicht übertreiben.
Mein Freund geht arbeiten und ich gehe mit den Kindern zu Freunden, die ein Baby erwarten. Was dort aufgetischt ist, ist irre. Diese Torte. Oft sehen Torten ja geil aus und schmecken dann nach nichts, v.a. weil alles, was Deko ist, aus Fondant besteht. Das hier ist Marzipan, mit Schokolade, Buttercreme und Himbeeren. Das schmeckt so gut, dass ich meine Obstphobie ignoriere und ohne pulen alles aufesse.
Teil des Party „Programms“ sind Henna-Tattoos, die sich alle machen lassen können. Ich überlege schon lange, ob ich doch ein Tattoo brauche. Ein Motiv hätte ich schon – das Problem ist nur, dass ich große Angst vor allem habe, das irgendwie „für immer“ gedacht ist.
Ich bin gespannt, wie lange das hält. Die Dame, die das gemacht hat, ist wirklich sehr handfertig. Ich bewundere solche Talente.
Auf der Party war es total entspannt. Ich bin dort sehr gerne. Alles unhektisch, irgendwie kuschlig und es gibt hervorragenden Kaffee. Was kann man mehr wollen? Die Kinder sind ebenfalls sehr, sehr gerne dort. Auf dem Weg nach Hause schlagen sie mir vor, dass ich einfach alles in unserer Wohnung mache, wie es bei unseren Freunden ist. Ich könnte ja fragen, wie es geht. SO schwer ist das bestimmt nicht.
Ich würde den Tag gerne gemütlich ausklingen lassen – nur leider habe ich es die letzten beiden Wochen vor Arbeit und kranken Kindern nicht geschafft, den Lieferdienst rechtzeitig zu beauftragen.
Wir fahren mit der Tram zum Freund, der dann mit uns gemeinsam einkaufen geht.
Im Einkaufsland ist alles wie Mordor. Ich bin schlecht gelaunt, meine Kinder sind schlecht gelaunt, die Regale verstecken die Artikel, die wir eigentlich kaufen wollen. Hass. Hass. Hass.
Der Lieferdienst ist wirklich jeden Cent wert. Ich weiß, das ist großer Luxus, aber es ist echt irre, was das an Stress spart. Abends am Rechner eine Einkaufsliste durchzuklicken, ist eben was anderes als mit zwei Kindern durch absurd riesige Supermärkte zu irren, genervt an Kassen zu stehen und den ganzen Mist dann nach Hause in den 4. Stock ohne Aufzug zu schleppen. Ich bin so sauer auf mich, dass ich es diesmal nicht auf die Reihe bekommen habe.
Draußen dann wieder eine „Hunde-Situation“. Im Moment bin ich total abgenervt von rücksichtslosen HundebesitzerInnen. Ich verstehe es nicht. Dieses auf Straßen kacken lassen – in Parkanlagen frei rumlaufen lassen – zur Krönung auf Spielplätze scheißen lassen und wie hier – mit langer Leine in den Eingang stellen.
Ich habe da schlimme Fantasien, was ich gerne alles machen würde. Dann denke ich an den Film Muxmäuschenstill und atme tief durch.
Mein Freund hat wohl gemerkt, dass ich GRROOAAARRRRR ein bisschen genervt bin. Statt selbst kochen, schlägt er Burger essen gehen vor. Nach einigem Abwägen, entscheide ich mich für YOLO.
Im Burgerladen dann: kein Platz.
Also Pizza! Im Pizzaladen: kein Platz!
GEHEN WIR HALT GOTTVERDAMMTE FLAMMKUCHEN ESSEN.
Und dann geschieht ein Wunder: Wir bekommen einen Platz und das Essen ist wirklich sehr, sehr gut. Die Kinder essen alles auf. Wir lassen der Köchin unsere Glückwünsche übermitteln. Mein Flammkuchen mit Ziegenkäse, Cocktailtomaten und Oliven, sowie einem Hauch von Rucola, ist ebenfalls hervorragend.
Kind 3.0 ist sehr zappelig und steht unterm Essen immer wieder auf, um zu tanzen. Wie ermahnen abwechselnd wie ein Metronom (30 BPM): „Hinsetzen – leise – hinsetzen – leise“
Mein Freund bekommt dabei eine weitere Einsicht in die Elternschaft:
Schwanke zwischen Nachtisch bestellen oder Exempel statuieren.
Ich denke, damit habe ich Peak Elternschaft erreicht.
Die Kinder wünschen sich statt Geschichte vorlesen, Trailer für Kinderfilme anschauen. Über Zoomania und Pets müssen wir sehr lachen. Dann kuscheln wir noch und die Kinder schlafen ein.
Es ist für mich ein Ritual geworden, abends noch eine Tasse Tee zu trinken. Ich fürchte, ich besitze so 20 Sorten Tee und trinke dann doch fast immer den selben.
Interessant finde ich übrigens, dass viel über überteuerten Kaffee geschimpft wird und kaum über bekloppt teuren Tee. Der Tee aus dem Bio-Laden kostet pro Tasse rund 18 Cent.
Den Rest des Abends schauen wir Serien. Aktuell Limitless und neu Lucifer, einer Neil Gaiman Verfilmung, deren Pilot ganz unterhaltend ist. It’s all very British.
Vor einigen Tagen habe ich ein Rezensionsexemplar von Christine Finke’s „Allein, alleiner, alleinerziehend: Wie die Gesellschaft uns verrät und unsere Kinder im Stich lässt“ (Amazon Werbelink) erhalten und ein Bild davon auf instagram gepostet. Innerhalb weniger Minuten hatte ich zwei Kommentare darunter, die inhaltlich so etwas sagten wie: „Orrr, jetzt hat die auch noch ein Buch geschrieben. Die nervt mit ihrem Gejammer doch schon auf Twitter.“
Das hat mich wütend gemacht und ich hab nach einigem Hin- und Herüberlegen die Kommentare einfach gelöscht, statt darauf zu antworten.
Am Abend darauf habe ich das Buch gelesen. Nach den ersten 80 Seiten habe ich (weil es schon spät war) das Buch beiseite gelegt. Es ist ein ehrliches, sehr persönliches und informatives Buch, das sich zudem gut liest, weil Christine einfach gut schreibt. Das weiß man eigentlich schon, wenn man ihren Blog Mama arbeitet regelmäßig liest.
Und ja, es ist teilweise schmerzhaft zu lesen, was Christine erlebt hat und noch erlebt.
Ich habe mich an vielen Stellen stark identifizieren können. Ich versuche mich zu dem Thema in der Öffentlichkeit zurück zu halten und würde auch nicht sagen, dass ich zu den Alleinerziehenden gehöre, aber zumindest betreffen mich einige Themen auch seit meiner Trennung vor zwei Jahren.
Ich kenne zumindest die Erschöpfung, die man erreichen kann, wenn man die Hauptverantwortung für mehrere Kinder hat und nebenher arbeiten geht.
Ich kenne auch die Kommentare, die man sich anhören darf, wenn man sich trennt. Von „Hast du nicht an die Kinder gedacht“ bis hin zu „Eigentlich hattest du es doch gut, was willst du denn noch?“.
Einige meiner Freundinnen sind wirklich alleinerziehend und zwar im Sinne von: Sie haben die Kinder zu 100%, die Väter melden sich nicht mal zum Geburtstag. Und sie bekommen keinen Unterhalt. Wie sie den Alltag meistern, was sie auf sich nehmen (müssen), es lässt mich oft sprachlos zurück. Ich habe mir schon oft beim Zuhören gedacht, ich würde einfach zusammenbrechen.
Zurück zum Buch: All das schildert Christine und sie geht auch auf andere Modelle ein. Sie geht auf persönliche Umstände ein, nimmt die Perspektive der Kinder ein, schildert die wirtschaftliche Situation, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und zeigt, was politisch alles noch getan werden muss.
Das Buch ist eine gute (und in meinen Augen sehr mutige) Mischung aus persönlichen Erfahrungen und Sachinformationen.
Und plötzlich verstehe ich die Ablehnung der Kommentatorinnen auf instagram. Sie haben Angst. Sie haben Angst sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Weil wenn sie es täten, dann würden sie verstehen, dass wir alle verantwortlich sind, wie es Alleinerziehenden in Deutschland geht. Dann kann man sich nicht einfach zurücklehnen und sagen: „Alles fein, mir gehts gut. Was habt ihr denn?“
Also stößt man weg, was einen darauf aufmerksam macht, dass es in diesem Bereich noch große Probleme gibt. Nur leider ist das Realität und es gehört zur gesellschaftlichen und persönlichen Verantwortung sich mit all diesen Themen auseinanderzusetzen: Mit den Alleinerziehenden, mit der Kinderbetreuungssituation im Allgemeinen, mit Armut, mit den gesellschaftlichen Normen, mit der Diskriminierung von Alleinerziehenden bei der Arbeitssuche, am Arbeitsplatz selbst, mit all dem! Das ist natürlich schmerzhaft.
Deswegen ist es auch viel einfacher zu sagen: „Geh mir weg damit. Ich will davon nichts hören!“
Ich hingegen lege allen ans Herz das Buch zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen und sich die Frage zu stellen, an welcher Stelle man vielleicht helfen kann. Im Kleinen… vielleicht mal ein Kind mit von der Schule oder dem Kindergarten abholen, an Schließtagen ein Kind mitbetreuen, helfen die Sozialkontakte aufrecht zu erhalten, indem man fragt, ob man abends zu Besuch kommen kann (und was mitbringt), statt sich in Kneipen zu verabreden, doofe KollegInnensprüche („Typisch, jetzt ist da wieder das Kind krank!“ oder „Die macht doch auch ständig nur Homeoffice, oder?“) gegenkommentieren. Es gibt einiges, bei dem man helfen kann und v.a. einfach machen. Nicht fragen, ob man vielleicht helfen kann und die Alleinerziehenden in ständige Bittstellerposition bringen – sondern einfach machen.
Ich erinnere mich an ein Entwicklungsgespräch im Kindergarten.
Erzieherin: „Hast du noch Fragen?“
Ich: „Ja, äh also, wie ist das bei euch mit dem Essen?“
Erzieherin: „Was meinst du?“
Ich: „Bleibt Kind 2.0 bei euch sitzen?“
*hysterisches Auflachen*
Dann erinnere ich mich an ein weiteres Entwicklungsgespräch im Kindergarten.
Erzieherin: „Hast du noch Fragen?“
Ich: „Ja, äh also, wie ist das bei euch mit dem Essen?“
Erzieherin: „Was meinst du?“
Ich: „Bleibt Kind 3.0 bei euch sitzen?“
*resigniertes Abwinken*
Diese beiden Dialoge fassen unsere gemeinsamen Mahlzeiten eigentlich ganz gut zusammen.
Egal ob Frühstück, Mittagessen oder Abendessen – es ist furchtbar. In meiner naiv romantischen Vorstellung dachte ich, gemeinsame Essen finden so statt: Wir setzen uns alle an den Tisch. Wir nehmen das Besteck in die Hand und essen. Während wir essen, erzählen wir uns vom Tag, wir lachen, gießen uns Saftschorle nach und am Ende lehnen wir uns zurück und plaudern noch ein bisschen mehr. Wir sind alle ganz entspannt.
Werbefernsehromantik, ja, ja. Ich bin wieder drauf reingefallen. Werbefernsehen hat mir eine unrealistische Vorstellung davon vermittelt, wie mein Leben mit Kindern sein könnte.
In Wirklichkeit sieht es so aus: Ich habe bis nachmittags gearbeitet, hole Kind 3.0 vom Kindergarten ab, wir gehen schnell einkaufen. Es ist 17.15 Uhr. Wir kommen zuhause an. Kind 2.0 ist schon da und mich überschwappt eine Welle heuteinderSchuldeunddieAnnahatdannnochaberdahatdannderTimblblblblblblbl schwaaahhhblablablabalbalbalblubblu.
Ich bin müde, total erschöpft, ich will eigentlich nur eines: meine Ruhe.
Ich packe die Einkäufe weg. Kind 3.0 hat jetzt auch was zu erzählen. Ohne Punkt und Komma. Es fällt mir schwer zuzuhören. Ich höre graues Rauschen wie Jen bei der IT Crowd wenn Moss etwas Technisches erklärt.
Ich fange an zu kochen. Die Kinder „spielen“ derweil im Kinderzimmer.
Mit letzter Kraft schleppe ich mich an den Wohnzimmertisch und rufe „Essen ist fertig!“.
Die Kinder kommen. Kind 3.0 greift mit den Händen ins Essen.
Ich: „Kannst du bitte Besteck benutzen?“
Kind 3.0 verdreht die Augen. Kind 2.0: „Jetzt nimm das Messer, ey!“
Kind 3.0: „Du sollst nisch über misch bestimmen!“
Ich: „Richtig, aber bitte benutz doch das Besteck, Kind 3.0!“
Kind 3.0 wirft wütend die Hand voll Kartoffelpürree, die es gerade aufgenommen hat auf den Teller zurück. SCHLOZ. Soße spritzt auf den Tisch. Kind 3.0 steht auf und stempelt mit den vollgesabberten Händen folgende Gegenstände: Tisch, Stuhl, Türgriff Wohnzimmer, Türrahmen Wohnzimmer, Türgriff Küche, Türrahmen Küche, Ablage Küche, Spüle, unerklärlicherweise Wand, wieder Türgriff Küche, Türrahmen Küche, Türgriff Wohnzimmer, Türrahmen Wohnzimmer, Stuhl, Tisch.
Es „wischt“ die Soße auf.
In der Zwischenzeit hat Kind 2.0 das Essen aus dem Mund fallen lassen: „Ist ja ekelhaft. Ist das wieder so ein komisches vegetarisches Zeug?“
Ich: „Wollte ich mal ausprobieren.“
Kind 2.0: „Ich esse Jogurt!“
Kind 3.0: „Isch auch.“
Ich bin zu schwach Widerstand zu leisten. Jogurt wird geholt. Kind 3.0 ist derweil verloren gegangen.
Ich rufe: „Kind 3.0, bist du fertig mit dem Essen?“
Kind 3.0 aus der Ferne: „Neeee!“
Kind 2.0 fängt an zu singen.
Ich: „Nicht singen am Tisch!“
Kind 3.0 erscheint im Türrahmen und singt mit.
Ich nicke kurz ein. Als ich aufwache, hat Kind 3.0 die Füße auf dem Tisch abgelegt. Kind 2.0 übt Capoeira-Tritte. Eine Flasche Wasser segelt an mir vorbei.
Ich: „Bitte! Könnt ihr bitte leiser sein und normal essen?“
Ich atme durch. Ich zähle langsam im Geiste bis zehn. Ich reiße mich zusammen und frage in meiner lieblichsten Stimme: „Na, wie war es denn in der Schule?“
Kind 2.0: *murmelmurmel*
Kind 3.0: „Also im Kindergarten, da war der Robert und der Robert <insert 20 minütigen Monolog.>“
Kind 2.0: „ICH WILL AUCH MAL WAS SAGEN!“
Kind 3.0: „ABER ICH REDE!!!“
Kind 2.0: „ABER DU HÖRST JA NIE AUF.“
*Gerangel* *Stühle fallen um*
Die Kinder stehen auf.
Ich sitze alleine am Tisch. Einsam und alleine. Alles ist vollgeschmiert.
Ich: „Räumt ihr bitte ab?“
Kind 3.0: „DAS IST SKLAVEREI!“
Kind 2.0: „IMMER MUSS ICH ALLES ALLEINE MACHEN!!!1“
Das gemeinsame Essen ist meine Erziehungsnemesis*. Völliges Versagen. Alles falsch gemacht. Täglich scheitere ich daran. Ich stehe auf, setze mich an meinen Rechner und schaue mir auf YouTube Clips glücklicher Familien beim Essen an.
*Dafür schlafen meine Kinder immer um 20 Uhr. Immer. IMMER!
Ich verband mit dem Wort „Schmusen“ immer eine Gewisse Zärtlichkeit. Stimmt ja auch, wenn man das Wort nachschlägt, steht da „sich zärtlich berühren“. Auch die Synonyme lassen auf einen sanften Kontext schließen: kraulen; liebkosen; kuscheln; tätscheln; ei, ei machen (umgangssprachlich); streicheln; schmiegen; herzen.
2006 änderte sich meine Vorstellung von schmusen schlagartig. (Haha! Schlagartig passt so gut in diesem Zusammenhang!)
2006 lernte ich nämlich das damals fast dreijährige Kind 1.0 kennen. Schmusen wurde zu irgendwas mit Knien.
Wenn ein Kleinkind (im Grunde zieht sich das bis ins Grundschulalter) „schmusen“ möchte, zieht sich mein Körper instinktiv zusammen. Kinn an die Brust, Bauchmuskeln anspannen, der Körper bildet ein C. Arme schützend überkreuzen, am besten einrollen, Augen zur Sicherheit schließen, totstellen. Nach einigen Jahren mit Kindern, kann nicht mehr anders. Es ist ein Reflex geworden. Auch wenn meine Vorstellung nach wie vor unerschütterlich romantisch ist. Ich falle nämlich immer wieder auf den Schmusewunsch der Kinder rein.
Vielleicht bin ich nur ein bedauerlicher Einzelfall – aber bei meinen kleinen Kindern bedeutet schmusen in der Regel mit den Knien voraus auf einen springen. Das ist nicht unbedingt angenehm. 20 kg (+) beschleunigte Masse mit zwei spitzen Knien voraus. LKW-Fahrer, die sich mit dem Thema „Ladung angemessen sichern“ beschäftigen, werden die zu erwartenden Schmerzen sogar exakt ausrechnen können.
Im Grunde ist die physikalische Korrektheit an dieser Stelle auch völlig egal. Ob nun eine halbe Tonne oder eine ganze… es tut furchtbar weh. Je nach Größe des schmusebereiten Kindes und nach Geschlecht des Zubeschmusten sogar noch mehr. Ich habe in einem komplizierten Verfahren errechnet, dass das Maximum an Schmerz erreicht wird, wenn ein ca. 1,05 m großes Kind auf einen ca. 1,80 m großen, aufrecht stehenden Mann springt.
Neben dem Besprungenwerden kennen Kleinkinder auch andere Schmusevarianten. Eine unter der ich immer wieder leide, ist die Beschmusung von unten mit dem beschleunigten Kinderkopf an das eigene Kinn.*
Eher harmlos ist die Bekletterung im liegenden Stadium, in der das gesamte Kindesgewicht auf die Füße oder ebenfalls Knie konzentriert wird.
Als schmusebereite Eltern durchläuft man verschiedene Phasen der Beschmusung. Unerfahrenen Eltern empfehle ich deswegen Phase I besonders intensiv zu genießen. Die Phase kommt nie wieder.
Phase 1: passives Schmusen I; Kindesalter unter 2 Jahre, Gewicht unter 20kg; das noch relativ unbewegliche Kind kann nach belieben geherzt werden.
Phase 2: aktives Schmusen I, Kindesalter über 2 Jahre, Gewicht über 20kg; die Eltern sind noch ahnungslos und empfangen die Kinder mit offenen Armen.
Phase 3: aktives Schmusen II, Kindesalter unter 7 Jahre, Gewicht unter 40kg; die Eltern haben eine Reihe sehr eindringlicher Schmuseerfahrungen gemacht und reagieren wie Gürteltiere in Gefahr, wenn das Kind schmusen möchte.
Phase 4: passives Schmusen II, Kindesalter über 7 Jahre, Gewicht über 40kg; das Kind möchte (zumindest öffentlich) nicht mehr geherzt werden (Tut den Eltern nur im Herzen weh, äußerlich keinerlei Schmerzen).
Übrigens gibt die etymologische Herkunft des Wortes werdenden Eltern eigentlich schon ausreichend Hinweise. Schmusen kommt tatsächlich von „Schmus“ – schmues – Gerüchte. Es ist nämlich nur gerüchteweise schön mit Kleinkindern zu schmusen. Das weiß man dann jedes Wochenende morgens im Bett, wenn die Kinder um 6.20 Uhr schmusen kommen. Je mehr, desto schmerzlicher.
*In billigen Liebesromanen soll frau angeblich in totaler Ekstase Glocken läuten hören. Leider ist mir das noch nie widerfahren. Sehr wohl habe ich in diesem völlig unsexuellen Schmuseszenario schon öfter Sterne gesehen. Das nur am Rande.
Seit einigen Wochen mache ich mir Gedanken über das Thema Aufklärung bei Kindern. Ich dachte eigentlich, wir gehen in der Familie ganz offen mit allem um und die Kinder wüssten schon über alles Bescheid. In einem völlig anderen Kontext habe ich Kind 2.0 und 3.0 mal gefragt: Wisst ihr wie lange man schwanger ist?
Kind 3.0 selbstbewusst: „Na klar! Zwei Jahre!“
Kind 2.0, empört: „Entschuldigung? Elefanten sind zwei Jahre schwanger. Menschen nur vier Monate!“
Da wusste ich: Wir haben Redebedarf.
Auf Twitter hatte ich schon mal rumgefragt, ob mir jemand Hefte, Bücher, Filme, Comics empfehlen kann. Ich selbst hatte als Kind in den 80ern „Peter, Ida und Minimum.“ (Amazon Webelink). Ganz vorne gab es eine Doppelseite gezeichneter nackter Menschen, die man von vorne und hinten sah. Frauen und Männer, Kinder in groß, klein, dick, dünn. Das fand ich als Kind toll. Ich hab mir diese Seiten lange angeschaut und war fasziniert, dass es große Brüste gab und kleine, dicke Bäuche, flache Bäuche, runde Popos, faltige Popos – eben Vielfalt.
Der Rest des Comics war eher so naja. Die Mutter ist z.B. ständig entnervt, während der Vater abwinkt: So sind sie die Schwangeren.
Als Leserin von Krachbumm (tolle Seite, abonniert außerdem den Newsletter!), hatte ich zudem eine (späte) Erleuchtung. Aufklärung bezieht sich meistens nur auf den Fortpflanzungsakt. Mir ist wirklich noch nie ein Aufklärungsbuch in die Hand gekommen, in der es auch darum ging, dass Sex Spaß macht.
Das ist auch der Grund warum mich das Thema als Kind dann nicht interessiert hat. Ich wußte ja wie Babys entstehen und da Babys für die nächsten zwanzig (mindestens) Jahre keine Rolle spielen würden, war das Thema Sexualität für mich abgehakt.
Aus heutiger Perspektive erscheint mir das wirklich total seltsam. Warum läuft Aufklärung so ab? Warum tut man so, als ginge es bei Sex ausschließlich um Fortpflanzung? Auf meine persönliche Erfahrung zurückblickend ist das Verhältnis Fortpflanzung zu Spaß doch ein eher anderes.
Das mal so nebenbei. Ich finde ein ordentliches Aufklärungsbuch darf gerne auch von Wohlgefühlen und Spaß sprechen…
In der Grundschule von Kind 2.0 gibt es nun Sexualkunde und in diesem Zusammenhang wird der Film „Wo komme ich eigentlich her?“ geschaut. Der Film entstand 1985. Mein Kind wird also in der Schule mit einem Film aufgeklärt, der älter als 20 Jahre ist.
Eine Mutter, die den Film gesehen hat, berichtete ausserdem von anderen Szenen, die ich in Anbetracht der (z.B.) aktuellen Stilldebatte für wirklich fragwürdig halte.
Gegner des öffentlichen Stillens argumentieren ja viel über die Nacktheit und die „übergriffige“ Intimität der sie ausgesetzt sind, wenn Frauen ihre „Brüste auspacken“.
„Nun hat sie ihre Brust befreit, doch statt endlich das heulende Kind daran zu klemmen, hält sie es noch hoch, quatscht es voll und dreht es noch fünfmal hin und her, bevor sie endlich die anscheinend richtige Positon gefunden hat. Schließlich tritt Ruhe ein, aber nein! In die Stille hinein fängt diese Frau an zu erläutern: “Stillen ist ja das Beste! Bis zur Einschulung werde ich mein Kind mindestens stillen! Sehen Sie, wie prall meine Brüste sind? Damit könnte ich eine Fußballmannschaft ernähren!”
Und das ist es genau! In der Regel sieht man weder nackte Brust noch ist der stillenden Frau daran gelegen auffällig und provokant zu stillen.
Im Film sieht das so aus:
(Klick aufs Bild, springt zu der Stelle im Film, Tipp für die Nerven, Ton weglassen)
Eine Frau sitzt unangeschnallt auf der Rückbank eines Autos, packt beide Brüste aus und stillt so wie man das da sehen kann: beide Brüste ausgepackt. Danach packt sie auch erstmal nicht mehr ein.
WTF?
Das wird dann ggf. Kindern gezeigt, die zuhause noch nie gesehen haben, wie gestillt wird und die ohnehin im Kicher-Alter sind.
Das lässt mich wieder zu der Frage kommen: Habt ihr Tipps für gute Aufklärungsbücher, Comics, Filme? Wie macht ihr das zuhause?
Am Wochenende hatte ich kinderfrei und wenn ich eins liebe, dann tagsüber Serien zu schauen (was ja mit Kindern nicht geht). Unter der Woche nach 20 Uhr (meist ist es eher 21 Uhr ehe ich mit allem fertig bin) bin ich meistens so müde, dass ich doch irgendwann einschlafe – egal wie spannend die Serie ist, die ich gerade schaue.
Am Sonntag also endlose 14 Stunden Zeit Serien zu schauen. Problem war nur: Die aktuelle Folge The Good Wife hatte ich schon gesehen, ebenso alle Folgen Limitless, Better Call Saul gab es aktuell von der 2. Staffel nur eine Folge… ich weiß gar nicht wie ich dann drauf gekommen bin, aber ich bin auf Netflix (erneut, wie ich dann feststellen sollte) auf Black Mirror gestoßen. Eine kurze Frage in meine Timeline: Black Mirror – yay or ney? Ergab 28 Mal: unbedingt schauen mit diversen Warnhinweisen, dass die Serie wirklich ans Gemüt ginge.
Ach was, ans Gemüt geht mir kaum was, das Gemetzel in Game of Thrones nicht, auch das bei Breaking Bad nicht und überhaupt*.
Die Beschreibung der ersten Folge Black Mirror macht einem höchstens Angst, weil sie maximal doof und uninteressant formuliert ist: „Premierminister Michael Callow hat mit einem schockierendem Dilemma zu kämpfen, als Prinzessin Susannah, ein geliebtes Mitglied der Königsfamilie entführt wird.“
Warum das in das Genre Sci-Fi und Fantasy einsortiert ist, erschließt sich beim Lesen der Beschreibung nicht.
OK, klang also erstmal nicht so als ob ich das unbedingt sehen möchte. Wir starteten die Folge und da Netflix sich merkt, welche Serien und Filme man schon gesehen hat und wo man als letztes war, zeigte sich: Ich hatte die ersten 15 min der Folge „Der Wille des Volkes“ bereits gesehen und anscheinend vor Langeweile oder Unverständnis abgeschaltet.
Nun denn: meine Timeline – völlig einheitlich: Schau Dir die Serie an. Ich mache ja grundsätzlich was meine Timeline sagt…
Montag Abend hatte ich dann alle 3 Staffeln (2 Staffeln à 3 Filme und einen Zusatzfilm nach der 2. Staffel) fertig geschaut.
„ich gebe 5 sterne, weil mich diese folge sehr beeindruckt hat, trotz einiger, kleinerer inszenatorischer schwächen und gelegentlicher unerträglichkeit.“
Ich bin ja sonst nicht so mit Spoilern, aber tatsächlich möchte ich über den Inhalt der einzelnen Folgen nichts verraten. Was mich nicht daran hindern soll zu sagen: Diese Serie ist das Beste, was ich an Dystopien je gesehen habe.
In der Regel bin ich von Kulturpessimismus sehr genervt. Es wiederholt sich ja seit Jahrhunderten das Gejammer, dass eine neue Technologie die Jugend verroht, die Menschen dumm macht, die Zukunft schwarz, den Untergang der Kultur bedeutet. Sei es nun der Buchdruck, das Fernsehen, das Internet oder sonst irgendwas. Schnell sind die Kulturpessimisten auf der Matte und predigen das Ende des Abendlandes.
Black Mirror zeichnet eine Zukunft (eine nahe), die so nach meiner Auffassung durchaus eintreten könnte. Alles ist da: die Technik, das Internet, die ganzen Plattformen wie Twitter und Co., die Medien, die Gier nach Views und die Haltung „Die Menschen sind eben so, wir geben ihnen nur, was sie wollen.“ Meine Gegenwart – nur ein ganz klein wenig weiter gesponnen.
In jeder Folge wird ein ekeliges Phänomen unserer heutigen Zeit (z.B. die Castingshows, Werbeeinblendungen, sensationslustige Medien, Reality Shows…) beleuchtet und auf eine Weise auf die Spitze getrieben, die mir beim Zuschauen teilweise Bauchschmerzen gemacht hat (und zwar echte, nicht metaphorische).
Folge 3, Staffel 1 „Das transparente Ich“ fand ich wirklich sehr, sehr beunruhigend. „Böse neue Welt“ (2. Teil, 2. Staffel) hat mir Alpträume beschert. Bei „White Christmas“ war mir dann durchgehend schlecht. Gerne würde ich meine Hände auf meine Ohren legen, um so zu verhindern, dass mir mein Ich… aber lassen wir das. Ich will schließlich nicht spoilern. Diesmal wirklich nicht.
In mir bleibt das Gefühl, dass ich jede Folge mit meinen Freundinnen und Freunden nachbesprechen möchte. Am liebsten wäre mir eine kleine Selbsthilfegruppe, ein Stuhlkreis, in den ich kommen kann und sagen kann: „Hallo, mein Name ist Patricia Cammarata und ich möchte über die furchtbare Zukunft sprechen. Vorher möchte ich aber umarmt werden.**“
Also – setzt euch und erzählt mir von euren Gefühlen (fast hätte ich jetzt einen Smiley getippt UNTERGANG DER KULTUR!!!1!) zu Black Mirror.
*Ich mache halt immer die Augen zu, was oft bedeutet, dass ich so 40-50% der Folge nicht sehe.
**Ich mag ja keine Menschen, aber in dem Fall würde ich eine Ausnahme machen…
P.S. Ende September 2015 gab der US-Streamingdienst Netflix bekannt, dass er eine dritte Staffel von Black Mirror mit insgesamt 12 Episoden bestellt hat und produziert*
P.P.S. Für die Serie spricht übrigens auch die große Diversity und die in meiner Wahrnehmung sehr gleichberechtigten und sichtbaren Frauenrollen. Das nur am Rande.
Ich erinnere mich gut an den Geschichtsunterricht in der Schule und meine damals kindliche Bedrückung, mein Entsetzen und mein Unverständnis als wir über das 3. Reich sprachen. Wie hat das alles passieren können? Es gab doch einen Anfang? Warum haben nur so wenige etwas getan? Naiv hat sich bei mir eine Art Verteilung der Handelnden ergeben: Eine kleine Gruppe von Menschen, die sich aktiv gegen all die Geschehnisse gewehrt haben, ein breites Mittelfeld schweigender Menschen, die weggeschaut haben und eine vergleichsweise kleine Gruppe Menschen, die Macht hatten und diese Gräueltaten verübt oder veranlasst haben.
„Habt ihr von all dem nichts gewusst? Warum habt ihr nichts getan?“
Ich habe diese Frage nie aktiv jemanden gestellt. Da war sie immer. Ich wollte schließlich begreifen, wie all der Hass, diese völlige Entmenschlichung, diese Abkehr von allem Guten stattfinden konnte.
Im Kopf spule ich 20 Jahre nach vorne. Meine Kinder sind groß. Clausnitz, die Pegida-Demonstrationen, all die Angriffe auf Flüchtlingsheime sind Teil der Geschichte. Ich möchte mir im Detail nicht ausmalen, in welcher Welt wir 2036 leben. Aber ich will eine Antwort haben auf die Frage: „Habt ihr von all dem nichts gewusst? Warum habt ihr nichts getan?“
Denn ich habe es gewusst, ich habe es gesehen. Ich habe mir Videos mit Unbehagen angeschaut und schließlich mit Tränen in den Augen. Ich habe mich geschämt, ich war entsetzt und ich war fassungslos. Ich bin es noch.
In meinen Kopf geht nicht rein, was dort (z.B. in Clausnitz) passiert. Ganz im Detail. Was passiert da?
Ich lese „Mehr als 100 Protestierende stellten sich dem Bus in den Weg„. Ich google den Ort und die Einwohnerzahl. Clausnitz ist ein Ortsteil der Gemeinde Rechenberg-Bienenmühle. Die letzte Angabe der Tabelle: 1990 gab es 1.151 Einwohner. Die Jahre davor schrumpft die Einwohnerzahl. Vielleicht sind es ein paar weniger, vielleicht ein paar mehr. Am Abend des 18. Februars kommt ein Bus mit 30 Asylsuchenden in der Ortschaft an. Irgendwie spricht sich das rum**. Übers Knie gebrochen zieht sich jeder 8. Einwohner des Ortsteils* an (manche nehmen sogar ihre Kinder mit) und versammeln sich am Ankunftsort. Was genau wollen sie? Warum ziehen sie ihre Jacken und Schuhe an dem Abend an?
Der Bus kommt an und die Asylsuchenden sollen in die vorgesehene Unterkunft. Die Protestierenden stellen sich dem Bus entgegen, umzingeln ihn. Wissen sie genau was sie da tun? Haben sie sich vorher schon Sprüche ausgedacht, die sie brüllen können? Einer? Drei? Fünf? Zehn schreien „Wir sind das Volk!“ Duzende stimmen mit ein.
Sie stehen also um diesen Bus herum, brüllen aus vollem Halse und blicken auf einen Bus voll mit verängstigten Menschen. Einige von ihnen fangen an zu weinen. Wenn ich das auf dem Video sehen kann, haben die Menschen die da waren, es erst recht gesehen. Sie schreien weiter. Da steht am Ende also ein hasserfüllt schreiender Vater und brüllt so laut er kann einigen weinenden Flüchtlingskindern, Frauen und Männern entgegen: „Wir sind das Volk“ und „Ausländer raus!“ und andere Ekelhaftigkeiten. Sieht er nicht, dass das Menschen sind? Kinder? Kinder verdammt nochmal. So wie seine?
Was ist da kaputt? Was zur Hölle ist kaputt bei diesen Menschen?
Ich sehe täglich Bilder von Flüchtenden und lese Artikel. Ich sehe Bilder der Städte aus denen sie fliehen, ich sehe Familien mit ihren Kindern, die Tausende von Kilometern zurück legen, die alles zurück lassen, die das eigene Leben und das ihrer Kinder riskieren, um von dort wegzukommen, wo sie aufgewachsen sind, wo sie gearbeitet haben, wo ihre Familie und Freunde gelebt haben. Unvorstellbar schlimm finde ich das. Ich kann mir nicht vorstellen wie schlecht es mir gehen müsste, wie viel Angst ich haben müsste, wie verzweifelt ich sein müsste, um so eine Entscheidung zu treffen.
Und dann sehe ich wieder das Video von Clausnitz an, sehe den wütenden Mob und frage mich: Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass sie mehr Angst als Mitgefühl haben?
In mir kommt nach der Hilflosigkeit und der Wut über diesen menschenverachtenden, rechten Mob in Clausnitz wirklich sowas wie Hass auf. Warum wird da nichts unternommen? Warum wird da nicht rechtlich gegen vorgegangen? Ich kenne die Rechtslage nicht, aber wird da nicht gegen etwas verstoßen? Kann man sich einfach irgendwohin stellen, Menschen zu Tode verängstigen und menschenverachtende, rechte Parolen rumschreien?
Und wenn ich dann all die Wut, die Hilflosigkeit und das Entsetzen im mir spüre, dann schwant mir: so wird es nicht weitergehen. Hass gegen Hass gegen Hass. Das bringt nichts. Es muss doch andere Wege geben. Aufklärung? Die Menschen in der Region haben offensichtlich Angst. Sie hatten sie vermutlich vorher schon und wurden angeheizt durch das was durch diverse Parteien (wie der AfD) vor Ort weiter angeschürt wird.
Es muss doch Konzepte geben. Kann nicht eine Task-Force Aufklärung gegründet werden, die vor Ort Gemeindemitglieder, Polizei und was weiß ich wen schult? Meine Güte ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, aber irgendwas muss doch getan werden. Vor Ort und auch anderen Orten.
Und die Medien – die Zeitungen und das Fernsehen und ihre immer währende Hetze. Es ist ekelhaft. Ich habe neulich mal eine Stunde ferngesehen. Es ist unfassbar wie da „berichtet“ wird. Unerträglich. Nach 60 Minuten wusste ich wieder, warum ich keinen Fernseher habe.
Und am Ende, hätte ich gerne eine Antwort auf die Frage „Warum habt ihr nichts getan“. Ich weiß gerade nicht, was ich tun kann. Was ich tun muss. Wirklich muss. Ich will diese Entwicklungen nicht mehr dulden. Ich will nicht Teil einer fremdenfeindlichen Kultur sein. Ich will ein Mensch bleiben. Menschlich sein, Mitgefühl haben, Empathie. Ich will nicht zuschauen und alles geschehen lassen.
** Die Ankunft des Busses soll nur wenigen bekannt gewesen sein, einer davon sei der Leiter des Asylheims gewesen sein, der selbst Mitglied der AfD sein soll